Durchbruch in der ALS-Forschung: Immunsystem als Schlüssel
Neue Studie identifiziert erstmals Autoimmunziel bei ALS: C9orf72-Protein löst T-Zell-Reaktionen aus. Hoffnung für gezielte Immuntherapien bei der Nervenkrankheit.
Wenn das eigene Immunsystem zum Feind wird
Stellen Sie sich vor, Ihr Körper kämpft einen Krieg gegen sich selbst – und Sie wissen es nicht einmal. Genau das passiert möglicherweise bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer unheilbaren Nervenkrankheit. Eine bahnbrechende Studie im renommierten Fachjournal Nature zeigt nun erstmals, welches körpereigene Protein das Immunsystem bei ALS-Patienten angreift: das C9orf72-Protein.
Diese Entdeckung könnte einen Wendepunkt in der ALS-Forschung markieren. Mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von nur vier Jahren nach Diagnose zählt ALS zu den verheerendsten neurodegenerativen Erkrankungen. Die neuen Erkenntnisse eröffnen nun erstmals konkrete Ansätze für gezielte Immuntherapien.
Was ist ALS und warum ist diese Entdeckung so bedeutsam?
Die Amyotrophe Lateralsklerose (die Erkrankung der Motoneuronen, die zu fortschreitender Lähmung führt) betrifft weltweit etwa 2-3 von 100.000 Menschen jährlich. Bei ALS kommt es zu einem fortschreitenden Verlust von Motoneuronen, was zu Lähmungserscheinungen führt. Männer erkranken etwas häufiger als Frauen.
Seit Jahrzehnten vermuteten Wissenschaftler, dass Autoimmunprozesse – also Angriffe des eigenen Immunsystems – eine Rolle bei ALS spielen. In betroffenen Geweben zeigen sich deutliche Entzündungszeichen, darunter eine erhöhte Infiltration von T-Zellen und aktivierte Mikroglia (Immunzellen des Gehirns), besonders im Rückenmark. Doch ein konkretes Ziel dieser Immunangriffe konnte bislang nicht identifiziert werden.
Der Durchbruch: C9orf72 als Autoimmunziel
Ein Forschungsteam um Professor Alessandro Sette vom La Jolla Institute for Immunology und Professor David Sulzer von der Columbia University hat nun dieses fehlende Puzzleteil gefunden. Die Wissenschaftler zeigen, dass ALS mit der Erkennung des C9orf72-Antigens verbunden ist und kartierten die spezifischen Epitope (Erkennungsstrukturen), die dabei eine Rolle spielen. Diese Reaktionen werden von CD4+ T-Zellen vermittelt, die bevorzugt IL-5 und IL-10 freisetzen.
Was macht C9orf72 so besonders?
C9orf72 ist kein zufälliges Protein. Mutationen im C9orf72-Gen sind die häufigste genetische Ursache von ALS und kommen bei 40% der familiären ALS-Fälle und etwa 10% der sporadischen ALS-Fälle vor. Diese Mutationen stehen auch mit frontotemporaler Demenz (eine Form der Demenz) in Verbindung.
Die Studie im Detail: Methodik und Teilnehmer
Die Forscher untersuchten Blutproben von 40 ALS-Patienten und 28 altersgleichen gesunden Kontrollpersonen. Das Durchschnittsalter lag bei etwa 61 Jahren in beiden Gruppen. Die Teilnehmer wurden an vier renommierten Kliniken in den USA rekrutiert.
Revolutionäre Nachweismethode
Aufgrund der geringen Häufigkeit autoreaktiver T-Zellen wurden die Immunzellen zunächst zwei Wochen lang mit Peptiden (Proteinbruchstücken) stimuliert, um antigenspezifische T-Zellen zu vermehren. Anschließend maßen die Wissenschaftler mit hochsensitiven FluoroSpot-Assays die Freisetzung verschiedener Botenstoffe:
- Interferon-gamma (IFNγ): Ein Marker für entzündungsfördernde TH1-Zellen
- Interleukin-5 (IL-5): Typisch für TH2-Zellen
- Interleukin-10 (IL-10): Ein entzündungshemmender Botenstoff, der mit regulatorischen T-Zellen assoziiert ist
Hauptergebnisse: Viermal stärkere Immunantwort bei ALS
Die Forscher beobachteten eine signifikante und selektive Zunahme der Reaktionen auf das C9orf72-Peptid bei ALS-Patienten, wobei die durchschnittlichen Antworten etwa 4,15-fach höher waren als in der Kontrollgruppe. Im Gegensatz dazu zeigten Tests mit anderen ALS-assoziierten Proteinen wie TDP-43 oder SOD1 keine vergleichbaren Unterschiede.
Ein ungewöhnliches Immunprofil
Besonders interessant ist die Art der Immunantwort: Bei ALS-Patienten machte IFNγ 31,7% der Antworten auf C9orf72 aus, IL-5 45,6% und IL-10 22,8%. Bei gesunden Kontrollen lagen die Anteile bei 54,9%, 27,0% und 19,0%.
Das bedeutet: ALS-Patienten zeigen eine Verschiebung weg von entzündungsfördernden Reaktionen (IFNγ) hin zu einem TH2-ähnlichen Profil mit mehr IL-5. Diese Verschiebung könnte erklären, warum das Immunsystem die Neurodegeneration nicht aufhalten kann.
23 verschiedene Angriffspunkte identifiziert
Bei 28 ALS-Patienten identifizierten die Forscher individuelle Epitope. Die Epitope verteilten sich über die gesamte C9orf72-Sequenz, wobei Regionen mit den Aminosäuren 41-95, 266-295 und 361-445 besonders immunogen waren.
Das am häufigsten erkannte Epitop war die Sequenz 56-70, die von 32% der Patienten erkannt wurde. Andere häufig erkannte Epitope waren die Sequenzen 366-380 (30%), 426-440 (26%), 431-445 (26%) und 81-95 (23%).
C9orf72-Mutation verstärkt die Immunantwort
Ein besonders aufschlussreicher Befund: Die C9orf72-spezifische T-Zell-Reaktivität war bei Patienten mit C9orf72-Mutationen etwa sechsmal höher als bei ALS-Patienten mit anderen Mutationen oder ohne bekannte Mutationen.
Diese Beobachtung wurde in einer unabhängigen Validierungskohorte bestätigt, wo die Reaktivität sogar mehr als 15-fach erhöht war. Der Unterschied war besonders ausgeprägt für IL-5 und IL-10, während IFNγ einen nicht-signifikanten Trend zeigte.
Längeres Überleben durch regulatorische T-Zellen?
Eine der hoffnungsvollsten Erkenntnisse der Studie betrifft die Überlebenszeit. Die Forscher kategorisierten Patienten nach ihrer vorhergesagten Überlebenszeit und beobachteten eine etwa fünffach höhere IL-10-vermittelte T-Zell-Antwort bei ALS-Patienten mit längerer vorhergesagter Überlebenszeit.
IL-10 ist ein entzündungshemmender Botenstoff, der von regulatorischen T-Zellen produziert wird. Diese Zellen können überschießende Immunreaktionen bremsen und haben möglicherweise eine schützende Wirkung auf die Nervenzellen.
Was bedeutet das für Betroffene?
Diese Entdeckung hat mehrere wichtige Implikationen:
1. Biomarker-Entwicklung: C9orf72-spezifische T-Zell-Antworten könnten als Biomarker zur Früherkennung und Verlaufskontrolle dienen.
2. Gezielte Immuntherapien: Die Identifizierung spezifischer Epitope ermöglicht die Entwicklung präziser Immuntherapien, die regulatorische T-Zellen fördern.
3. Personalisierte Medizin: Besonders Patienten mit C9orf72-Mutationen könnten von immunmodulierenden Therapien profitieren.
4. Frühere Intervention: Die Studie legt nahe, dass die C9orf72-Reaktivität bereits bei Krankheitsbeginn und Diagnose vorhanden ist, was frühere therapeutische Interventionen ermöglichen könnte.
Der Zusammenhang mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen
Interessanterweise fanden die Forscher auch erhöhte C9orf72-spezifische T-Zell-Antworten bei Patienten mit Parkinson- und Alzheimer-Krankheit. Allerdings unterschied sich das Zytokinprofil: Bei Parkinson- und Alzheimer-Patienten dominierten entzündungsfördernde IFNγ-Antworten, während bei ALS IL-5-Antworten im Vordergrund standen.
Kritische Betrachtung und Limitationen
Die Autoren weisen selbst auf Einschränkungen ihrer Studie hin:
- Die Experimente erforderten eine zweiwöchige Vorstimulation der Zellen im Labor, was die natürliche Situation nur annähernd widerspiegelt
- Die Studie untersuchte nur eine begrenzte Anzahl von Kandidatenproteinen
- Es wurden keine Phänotyp-Subtypen von ALS oder verwandte Erkrankungen wie frontotemporale Demenz untersucht
- T-Zellen im Nervensystem konnten aufgrund ihrer geringen Zahl nicht direkt analysiert werden
Ausblick: Neue Hoffnung durch Immuntherapien
Die Erkenntnisse unterstreichen das Potenzial therapeutischer Strategien zur Förderung regulatorischer T-Zellen und identifizieren ein Schlüsselziel für antigenspezifische T-Zell-Antworten, die präzise Therapeutika bei ALS ermöglichen könnten.
Tatsächlich laufen bereits erste klinische Studien mit regulatorischen T-Zellen bei ALS-Patienten. Die neue Erkenntnis über C9orf72 als spezifisches Ziel könnte diese Ansätze deutlich verfeinern und wirksamer machen.
Mögliche Therapieansätze der Zukunft
- Toleranzinduktion: Trainieren des Immunsystems, C9orf72 wieder als körpereigen zu akzeptieren
- Regulatorische T-Zell-Therapie: Gezielte Vermehrung und Rückgabe von IL-10-produzierenden T-Zellen
- Peptid-Impfstoffe: Blockierung der schädlichen T-Zell-Antworten durch spezifische Epitope
- Monoklonale Antikörper: Hemmung entzündungsfördernder Signalwege
Fazit: Ein Meilenstein der ALS-Forschung
Nach jahrzehntelanger Suche haben Forscher erstmals ein konkretes Autoimmunziel bei ALS identifiziert. Die Erkenntnis, dass C9orf72-spezifische T-Zellen eine zentrale Rolle spielen und dass insbesondere IL-10-produzierende Zellen mit besserem Überleben assoziiert sind, eröffnet völlig neue therapeutische Perspektiven.
Für Betroffene und ihre Angehörigen bedeutet dies nach Jahren der Stagnation endlich wieder Hoffnung auf wirksame Behandlungen. Zwar werden noch Jahre bis zur klinischen Anwendung vergehen, doch die Richtung ist klar: Die Zukunft der ALS-Therapie könnte in gezielten Immuntherapien liegen, die das Gleichgewicht zwischen entzündungsfördernden und schützenden Immunantworten wiederherstellen.
Referenzen
[1] Michaelis, T., Lindestam Arlehamn, C.S., Johansson, E. et al. Autoimmune response to C9orf72 protein in amyotrophic lateral sclerosis. Nature (2025). https://doi.org/10.1038/s41586-025-09588-6
Hinweis: Dieser Artikel dient ausschließlich Informationszwecken und ersetzt nicht die medizinische Beratung durch einen Arzt. Wenn Sie oder Angehörige von ALS betroffen sind, wenden Sie sich bitte an einen Facharzt für Neurologie.



