70% der Schmerzpatienten essen aus Trost: Was die neue Studie enthüllt
Wenn der Schmerz zum ständigen Begleiter wird
Stellen Sie sich vor, Sie wachen jeden Morgen mit Schmerzen auf. Der Gang zur Arbeit wird zur Qual, jede Bewegung erinnert Sie daran, dass Ihr Körper nicht mehr so funktioniert, wie er sollte. Für über 20% der Weltbevölkerung ist dies bittere Realität – sie leben mit chronischen Schmerzen, die länger als drei Monate andauern. Eine neue australische Studie der University of Technology Sydney beleuchtet nun einen oft übersehenen Aspekt: Wie und warum greifen Betroffene zum Essen, wenn der Schmerz unerträglich wird?
Die stille Epidemie: Wenn sich zwei Gesundheitskrisen treffen
Die Forscher um Claudia Roche sprechen von “zwei kollidierenden Epidemien” – chronische Schmerzen und Übergewicht. Die Zahlen sind alarmierend: Bei Menschen mit Übergewicht liegt die Prävalenz chronischer Schmerzen bei bis zu 40%. Diese Verbindung ist kein Zufall, wie die aktuelle Studie mit 141 Teilnehmern zeigt.
Was die Studie enthüllt
Die Ergebnisse sind eindeutig: Über 70% der Befragten gaben an, mindestens einmal im Monat zu Essen zu greifen, um mit Schmerzschüben fertig zu werden. Fast zwei Drittel (64,2%) tun dies sogar mindestens alle zwei Wochen. Besonders aufschlussreich: 82% der Studienteilnehmer essen während Schmerzphasen mehr von ihren Lieblingsspeisen, und 69% konsumieren generell größere Mengen als üblich.
Die verborgenen Funktionen des Trostessens
1. Die Suche nach angenehmen Momenten (51,8%)
Der häufigste Grund für schmerzinduziertes Komfortessen (Pain-Induced Comfort Eating, kurz PICE) überraschte selbst die Forscher: Menschen suchen schlicht nach einer angenehmen Erfahrung in einem von Schmerz geprägten Alltag. “Essen ist eine der wenigen verlässlichen Freuden, die mir geblieben sind”, könnte ein Betroffener sagen.
2. Ablenkung vom Schmerz (49,6%)
Fast die Hälfte der Befragten nutzt Essen als Ablenkungsstrategie. Die Konzentration auf Geschmack, Textur und das Ritual des Essens lenkt die Aufmerksamkeit – wenn auch nur kurzzeitig – vom Schmerz ab.
3. Emotionsregulation (39%)
Mehr als ein Drittel der Teilnehmer isst, um negative Gefühle zu reduzieren. Chronische Schmerzen gehen oft mit Depressionen und Ängsten einher – Essen wird zum emotionalen Ventil.
Die Wissenschaft dahinter: Warum funktioniert Komfortessen?
Die neurobiologischen Mechanismen sind faszinierend: Studien zeigen, dass der Konsum von zucker-, fett- und salzreichen Lebensmitteln tatsächlich schmerzlindernde Effekte haben kann. Diese Nahrungsmittel aktivieren das körpereigene Belohnungssystem und können kurzfristig die Schmerztoleranz erhöhen. Es ist, als würde der Körper seine eigenen Schmerzmittel produzieren – allerdings mit potenziell problematischen Langzeitfolgen.
Der Teufelskreis: Wenn die Lösung zum Problem wird
Die synergetische Beziehung zwischen Übergewicht und chronischen Schmerzen ist besonders besorgniserregend:
- Menschen mit Übergewicht erleben intensivere Schmerzen
- Sie sprechen schlechter auf Schmerzbehandlungen an
- Das zusätzliche Gewicht belastet Gelenke und verstärkt bestimmte Schmerztypen
- Dies führt zu noch mehr Komfortessen – ein Teufelskreis entsteht
Was bedeutet das für Betroffene?
Selbsterkenntnis als erster Schritt
Wenn Sie selbst mit chronischen Schmerzen leben, fragen Sie sich:
- Greife ich in Schmerzphasen häufiger zu Essen?
- Welche Funktion erfüllt das Essen für mich?
- Gibt es gesündere Alternativen, die mir ähnliche Vorteile bieten könnten?
Praktische Alternativen
Die Studie betont die Wichtigkeit, alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln:
- Achtsamkeitsübungen: Können ähnliche Ablenkung bieten ohne Nebenwirkungen
- Soziale Aktivitäten: Bieten angenehme Erfahrungen und emotionale Unterstützung
- Kreative Tätigkeiten: Malen, Musik oder Handarbeiten als alternative Ablenkung
- Professionelle Hilfe: Psychologische Unterstützung kann helfen, gesündere Bewältigungsmuster zu entwickeln
Der Weg nach vorn: Hoffnung durch Verständnis
Die Studie von Roche und Kollegen ist ein wichtiger Schritt zum besseren Verständnis der komplexen Beziehung zwischen chronischen Schmerzen und Essverhalten. Die Forscher betonen, dass Komfortessen nicht einfach als “Willensschwäche” abgetan werden sollte – es ist eine verständliche Reaktion auf eine außergewöhnliche Belastung.
Wichtige Erkenntnisse für die Behandlung
Für Therapeuten und Ärzte bedeuten diese Erkenntnisse:
- Essverhalten sollte bei der Schmerzbehandlung routinemäßig thematisiert werden
- Interventionen müssen die psychologischen Funktionen des Komfortessens berücksichtigen
- Alternative Bewältigungsstrategien sollten die gleichen Bedürfnisse erfüllen
Grenzen und Ausblick
Die Studie hat auch Limitationen: Die Mehrheit der Teilnehmer waren weiße Frauen, was die Übertragbarkeit auf andere Bevölkerungsgruppen einschränkt. Zudem basieren die Daten auf Selbstberichten, die anfällig für Erinnerungsverzerrungen sind.
Zukünftige Forschung sollte:
- Diverse Bevölkerungsgruppen einbeziehen
- Echtzeitdaten durch ökologische Momentaufnahmen erfassen
- Die Überschneidungen zwischen PICE, emotionalem Essen und Binge-Eating genauer untersuchen
Fazit: Ein mitfühlender Blick auf ein komplexes Problem
Komfortessen bei chronischen Schmerzen ist weit verbreitet und erfüllt wichtige psychologische Funktionen. Es geht nicht darum, Betroffene zu verurteilen, sondern zu verstehen und zu unterstützen. Wenn zwei Drittel der Schmerzpatienten zu dieser Bewältigungsstrategie greifen, ist es höchste Zeit, dass wir als Gesellschaft und Gesundheitssystem angemessen darauf reagieren.
Die Botschaft ist klar: Menschen mit chronischen Schmerzen brauchen nicht nur medizinische, sondern auch psychologische Unterstützung. Nur durch ein ganzheitliches Verständnis können wir den Teufelskreis aus Schmerz und ungesunden Bewältigungsstrategien durchbrechen.
Hinweis: Wenn Sie selbst mit chronischen Schmerzen leben und feststellen, dass Essen Ihre Hauptbewältigungsstrategie ist, zögern Sie nicht, professionelle Hilfe zu suchen. Ein multidisziplinärer Ansatz, der medizinische, psychologische und ernährungstherapeutische Aspekte vereint, kann Ihnen helfen, gesündere Wege zu finden, mit Ihren Schmerzen umzugehen.
Referenzen
Roche, C., Burton, A., & Newton-John, T. (2025). Eating to Feel Better: The Role of Comfort Eating in Chronic Pain. Journal of Clinical Psychology in Medical Settings, 32, 460-467. https://doi.org/10.1007/s10880-025-10064-6
Schlagwörter: Chronische Schmerzen, Komfortessen, Schmerzmanagement, emotionales Essen, Bewältigungsstrategien, PICE



