Statine während der Chemotherapie: Keine Verschlechterung der kognitiven Funktion
Neue Studie zeigt: Statine verschlechtern die kognitive Funktion bei Chemotherapie nicht und könnten sogar die Exekutivfunktion verbessern. Hoffnung für Krebspatienten.
Entwarnung für Krebspatienten: Statine beeinträchtigen das Denkvermögen nicht
Viele Krebspatientinnen und -patienten, die eine Chemotherapie erhalten, machen sich Sorgen um ihre geistige Leistungsfähigkeit. Das sogenannte “Chemo-Brain” – kognitive Beeinträchtigungen während und nach der Krebsbehandlung – betrifft bis zu 35 Prozent der Betroffenen. Gleichzeitig nehmen viele dieser Patienten Statine (cholesterinsenkende Medikamente) ein, um ihr Herz während der Behandlung zu schützen. Doch schaden diese Medikamente möglicherweise dem Gehirn? Eine aktuelle Studie aus dem JAMA Network Open gibt nun Entwarnung und liefert sogar überraschend positive Ergebnisse.
Die Studie im Überblick: Was wurde untersucht?
Forscherinnen und Forscher der Virginia Commonwealth University und der Wake Forest University führten eine umfassende Sekundäranalyse der PREVENT-Studie (Preventing Anthracycline Cardiovascular Toxicity With Statins) durch. Die Untersuchung lief von Februar 2014 bis September 2020 an 31 medizinischen Zentren in den USA. Insgesamt wurden 238 Patientinnen und Patienten eingeschlossen, die hauptsächlich an Brustkrebs (85 Prozent) oder Lymphomen (15 Prozent) erkrankt waren und mit dem Chemotherapeutikum Doxorubicin behandelt wurden.
Die Teilnehmenden waren durchschnittlich 49 Jahre alt, und 91 Prozent waren Frauen. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe erhielt täglich 40 Milligramm Atorvastatin (ein häufig verschriebenes Statin), die andere Gruppe ein Placebo (Scheinmedikament). Beide Gruppen nahmen das Medikament über einen Zeitraum von 24 Monaten ein, beginnend vor der ersten Doxorubicin-Gabe.
Wie wurde die kognitive Funktion gemessen?
Die Wissenschaftler verwendeten bewährte neuropsychologische Tests, um verschiedene Aspekte der Gehirnleistung zu bewerten:
Trail Making Test Teil A (TMT-A): Dieser Test misst die Aufmerksamkeit (die Fähigkeit, sich zu konzentrieren). Die Teilnehmenden mussten 25 nummerierte Kreise in der richtigen Reihenfolge so schnell wie möglich verbinden. Je schneller die Aufgabe erledigt wurde, desto besser die Leistung.
Trail Making Test Teil B (TMT-B): Dieser komplexere Test bewertet die Exekutivfunktion (die Fähigkeit des Gehirns, komplexe Aufgaben zu planen, zu organisieren und zwischen verschiedenen Gedanken zu wechseln). Hier mussten die Teilnehmenden zwischen Zahlen und Buchstaben abwechseln (1-A-2-B-3-C usw.). Dieser Test gilt als besonders wichtig, da Exekutivfunktionen für die Bewältigung des Alltags und Behandlungsentscheidungen entscheidend sind.
Controlled Oral Word Association Test (COWA): Dieser Test prüft die verbale Flüssigkeit (wie gut jemand Wörter produzieren kann). Die Teilnehmenden mussten innerhalb einer Minute so viele Wörter wie möglich nennen, die mit einem bestimmten Buchstaben beginnen.
Die Tests wurden zu drei Zeitpunkten durchgeführt: vor Beginn der Chemotherapie, nach sechs Monaten und nach 24 Monaten.
Die überraschenden Ergebnisse: Statine schützen möglicherweise sogar
Die Haupterkenntnis der Studie ist beruhigend: Patientinnen und Patienten, die während ihrer Chemotherapie Statine einnahmen, zeigten keine Verschlechterung ihrer kognitiven Funktionen im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Dies widerspricht Befürchtungen, die seit einer Sicherheitswarnung der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA aus dem Jahr 2012 bestehen, wonach Statine möglicherweise kognitive Nebenwirkungen haben könnten.
Noch interessanter: Bei der Exekutivfunktion, gemessen durch den TMT-B, zeigte sich in der Statin-Gruppe eine deutliche Verbesserung. Die Teilnehmenden, die Atorvastatin einnahmen, konnten den Test nach 24 Monaten durchschnittlich 10,2 Sekunden schneller absolvieren als zu Beginn der Studie. In der Placebo-Gruppe betrug die Verbesserung dagegen nur 0,2 Sekunden. Obwohl der Unterschied zwischen den Gruppen statistisch nicht signifikant war, deutet die innerhalb der Statin-Gruppe beobachtete Verbesserung darauf hin, dass Statine möglicherweise sogar einen schützenden Effekt auf die Exekutivfunktion haben könnten.
Auch bei der verbalen Flüssigkeit gab es positive Nachrichten: Beide Gruppen verbesserten sich in ähnlichem Maße – die Placebo-Gruppe um durchschnittlich 3,62 Punkte, die Statin-Gruppe um 4,74 Punkte. Dies zeigt, dass Statine die verbale Leistungsfähigkeit definitiv nicht beeinträchtigen.
Warum könnten Statine sogar schützen?
Die Forscherinnen und Forscher diskutieren mehrere mögliche Erklärungen für die positiven Effekte:
Entzündungshemmende Wirkung: Statine haben nachgewiesenermaßen entzündungshemmende Eigenschaften. Chronische Entzündungen stehen im Zusammenhang mit kognitivem Abbau, und die Reduzierung dieser Entzündungen könnte das Gehirn schützen.
Cholesterinspiegel: Die Studie zeigte, dass die Verbesserungen beim TMT-B mit einem Rückgang des LDL-Cholesterins (dem “schlechten” Cholesterin) einhergingen. Frühere Forschungen haben gezeigt, dass sowohl zu hohe als auch zu niedrige Cholesterinwerte mit schlechterer Exekutivfunktion verbunden sein können. Statine könnten helfen, einen optimalen Bereich zu erreichen.
Neuroprotektive Effekte: Einige Studien deuten darauf hin, dass Statine direkte schützende Effekte auf das Nervensystem haben könnten, unabhängig von ihrer cholesterinsenkenden Wirkung.
Was bedeutet das für Sie als Patient?
Wenn Sie Krebs haben und mit Doxorubicin behandelt werden: Diese Studie zeigt, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen, dass die Einnahme von Statinen Ihre geistige Leistungsfähigkeit verschlechtert. Im Gegenteil: Die Medikamente könnten Ihr Herz während der Chemotherapie schützen, ohne Ihrem Denkvermögen zu schaden.
Wenn Sie Statine einnehmen und sich Gedanken machen: Die Ergebnisse stützen frühere Untersuchungen, die zeigen, dass Statine bei den meisten Menschen keine kognitiven Probleme verursachen. Die weit verbreitete Sorge über “Gedächtnisverlust durch Statine” scheint übertrieben zu sein.
Wichtig zu wissen: Die Studie untersuchte hauptsächlich gut ausgebildete, weiße Frauen mittleren Alters. Weitere Forschung ist nötig, um zu bestätigen, ob die Ergebnisse auch für Männer, ältere Menschen und Personen mit anderen ethnischen Hintergründen gelten.
Einschränkungen der Studie
Wie bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung gibt es auch hier Einschränkungen:
Lerneffekte: Da die Tests mehrfach durchgeführt wurden, könnten die Teilnehmenden durch Übung besser geworden sein. Allerdings betrifft dies beide Gruppen gleichermaßen.
Begrenzte Vielfalt: Die Mehrheit der Teilnehmenden waren weiße Frauen mit höherer Bildung, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse einschränkt.
Keine Anpassung für mehrfaches Testen: Die Forscherinnen und Forscher haben mehrere Hypothesen getestet, ohne für multiples Testen zu korrigieren, was die Wahrscheinlichkeit von Zufallsbefunden erhöht.
Fazit: Grund zur Hoffnung
Diese sorgfältig durchgeführte Studie liefert beruhigende Nachrichten für Krebspatientinnen und -patienten: Die gleichzeitige Einnahme von Statinen während einer Chemotherapie mit Doxorubicin verschlechtert die kognitive Funktion nicht. Die Ergebnisse deuten sogar darauf hin, dass Statine die Exekutivfunktion – einen wichtigen Aspekt unseres Denkvermögens – verbessern könnten.
Für die vielen Menschen, die sowohl gegen Krebs kämpfen als auch ihren Cholesterinspiegel kontrollieren müssen, ist dies eine wichtige Erkenntnis. Sie können ihre Statintherapie fortsetzen, ohne Angst vor zusätzlichen kognitiven Beeinträchtigungen haben zu müssen.
Dennoch ist es wichtig, dass Sie Ihre individuelle Situation mit Ihrem behandelnden Arzt oder Ihrer Ärztin besprechen. Jeder Patient ist anders, und Behandlungsentscheidungen sollten immer auf der Grundlage Ihrer persönlichen medizinischen Geschichte getroffen werden.
Referenzen
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[4] Asher, A., Myers, J.S. (2015). The effect of cancer treatment on cognitive function. Clinical Advances in Hematology & Oncology, 13(7):441-450.
Dieser Artikel dient ausschließlich der Information und ersetzt keine medizinische Beratung. Bitte konsultieren Sie bei Fragen zu Ihrer Behandlung immer Ihren Arzt oder Ihre Ärztin.



