Verräterische Anzeichen von ADHS bei Erwachsenen: Ein praktischer Leitfaden
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) betrifft nicht nur Kinder – etwa 30 bis 70 Prozent der betroffenen Kinder zeigen auch im Erwachsenenalter noch Symptome. Viele Erwachsene wissen gar nicht, dass sie ADHS haben, und fragen sich, warum ihnen bestimmte Lebensziele immer wieder entgleiten. Dieser Leitfaden hilft Ihnen, die typischen Anzeichen zu erkennen und praktische Lösungsansätze zu finden.
ADHS ist keine reine Kinderkrankheit
Lange Zeit galt ADHS als Störung, die sich “auswächst”. Heute wissen wir: Bei vielen Menschen bleiben die Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen. Manchmal werden sie sogar erst dann richtig sichtbar, wenn die Anforderungen im Beruf oder in Beziehungen steigen. In Deutschland sind schätzungsweise 2-4% der Erwachsenen betroffen, wobei die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher liegt.
Die häufigsten Anzeichen im Alltag
1. Chronische Unpünktlichkeit
Sie wollen pünktlich sein, schaffen es aber einfach nicht? Menschen mit ADHS unterschätzen oft, wie lange Dinge dauern. Sie beginnen Aufgaben zu spät oder lassen sich kurz vor dem Aufbruch noch von etwas anderem ablenken. Das kann im deutschen Arbeitsumfeld, wo Pünktlichkeit großgeschrieben wird, besonders problematisch sein.
Praktischer Tipp: Stellen Sie alle Uhren 10 Minuten vor und planen Sie für jeden Termin einen zeitlichen Puffer ein.
2. Riskantes Verhalten im Straßenverkehr
ADHS-Betroffene haben statistisch gesehen häufiger Verkehrsunfälle und Strafzettel. Die Konzentrationsschwierigkeiten machen sich besonders beim Autofahren bemerkbar – das Handy klingelt, die Gedanken schweifen ab, oder man reagiert impulsiv auf andere Verkehrsteilnehmer.
Praktischer Tipp: Nutzen Sie öffentliche Verkehrsmittel, wann immer möglich, oder Fahrassistenzsysteme, die Sie unterstützen.
3. Ablenkbarkeit und Konzentrationsprobleme
E-Mails checken, während man eigentlich einen Bericht schreiben sollte. Beim Lesen immer wieder denselben Absatz wiederholen müssen. In Meetings gedanklich abschweifen. Diese alltäglichen Herausforderungen können die berufliche Entwicklung erheblich beeinträchtigen.
Praktischer Tipp: Arbeiten Sie mit der Pomodoro-Technik (25 Minuten konzentrierte Arbeit, 5 Minuten Pause) und schaffen Sie eine ablenkungsfreie Arbeitsumgebung.
4. Emotionale Ausbrüche
Erwachsene mit ADHS haben oft Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle. Das kann sich in plötzlichen Wutausbrüchen, verletzenden Kommentaren oder überstürzten Entscheidungen äußern. Im Nachhinein bereuen sie ihr Verhalten oft.
Praktischer Tipp: Üben Sie die “10-Sekunden-Regel” – atmen Sie tief durch und zählen Sie bis 10, bevor Sie in emotional aufgeladenen Situationen reagieren.
5. Hyperfokus – die andere Seite der Medaille
Paradoxerweise können sich Menschen mit ADHS manchmal extrem gut konzentrieren – aber nur auf Dinge, die sie wirklich interessieren. Stundenlang können sie in ein Hobby vertieft sein, während wichtige, aber langweilige Aufgaben liegen bleiben.
Praktischer Tipp: Nutzen Sie den Hyperfokus produktiv, indem Sie interessante Aspekte in langweiligen Aufgaben suchen oder diese mit Belohnungen verknüpfen.
Abgrenzung zu anderen Erkrankungen
Nicht jede Konzentrationsstörung ist ADHS. Ähnliche Symptome können auch auftreten bei:
- Depression (oft mit Antriebslosigkeit verbunden)
- Angststörungen (mit zusätzlicher innerer Unruhe)
- Schilddrüsenüberfunktion (mit körperlichen Symptomen)
- Burnout (meist mit klarem Auslöser)
Eine professionelle Diagnose ist daher unerlässlich.
Die Diagnose: Der Blick in die Kindheit
Für eine ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter müssen die Symptome bereits in der Kindheit vorhanden gewesen sein. Alte Schulzeugnisse mit Bemerkungen wie “könnte sich besser konzentrieren” oder “stört häufig den Unterricht” können wichtige Hinweise liefern. In Deutschland führen spezialisierte Psychiater oder psychologische Psychotherapeuten die Diagnostik durch.
Begleiterkrankungen ernst nehmen
Viele Erwachsene mit ADHS entwickeln zusätzliche psychische Erkrankungen:
- Depression (bei etwa 50% der Betroffenen)
- Angststörungen (bei etwa 30%)
- Suchterkrankungen (erhöhtes Risiko für Alkohol-, Nikotin- und Drogenabhängigkeit)
Diese Begleiterkrankungen müssen oft parallel behandelt werden.
Behandlungsmöglichkeiten
Medikamentöse Therapie
In Deutschland sind verschiedene Medikamente für die ADHS-Behandlung bei Erwachsenen zugelassen:
- Methylphenidat (z.B. Medikinet, Ritalin)
- Atomoxetin (Strattera)
- Lisdexamfetamin (Elvanse)
Die Wirkung setzt oft schon nach 30-60 Minuten ein und kann die Lebensqualität erheblich verbessern.
Psychotherapie und Coaching
Besonders bewährt hat sich die Verhaltenstherapie, die konkrete Strategien für den Alltag vermittelt:
- Zeitmanagement-Techniken
- Organisationsstrategien
- Umgang mit Prokrastination
- Verbesserung sozialer Kompetenzen
Viele Krankenkassen übernehmen die Kosten für eine Psychotherapie.
ADHS im deutschen Berufsleben
Die deutsche Arbeitswelt mit ihrer Struktur und Planungsorientiertheit kann für ADHS-Betroffene besonders herausfordernd sein. Gleichzeitig gibt es Berufsfelder, in denen ADHS-Eigenschaften von Vorteil sein können:
- Kreative Berufe (Werbung, Design, Journalismus)
- Notfallmedizin und Rettungsdienste
- Handwerk und praktische Berufe
- Vertrieb und Außendienst
- Selbstständigkeit mit flexiblen Arbeitszeiten
Wichtig: ADHS gilt in Deutschland als Behinderung. Sie haben möglicherweise Anspruch auf einen Nachteilsausgleich am Arbeitsplatz.
Praktische Alltagshilfen
Digitale Helfer nutzen
- Kalender-Apps mit Erinnerungsfunktion
- To-Do-Listen-Apps wie Todoist oder Any.do
- Zeiterfassungs-Apps für besseres Zeitgefühl
- Noise-Cancelling-Kopfhörer für konzentriertes Arbeiten
Strukturen schaffen
- Feste Routinen für Morgen und Abend etablieren
- Wichtige Gegenstände immer am selben Platz aufbewahren
- Aufgaben in kleine, überschaubare Schritte unterteilen
- Visuelle Erinnerungen (Post-its, Whiteboard) nutzen
Ernährung und Lebensstil
- Regelmäßige Mahlzeiten mit komplexen Kohlenhydraten
- Ausreichend Omega-3-Fettsäuren (Fisch, Nüsse)
- Reduzierter Koffeinkonsum am Nachmittag
- Regelmäßige Bewegung (mindestens 30 Minuten täglich)
- Ausreichend Schlaf (7-9 Stunden)
ADHS und Beziehungen
ADHS kann Partnerschaften belasten: Vergessene Jahrestage, unerledigte Haushaltsaufgaben oder impulsive Äußerungen führen oft zu Konflikten. Offene Kommunikation und gemeinsame Strategien sind der Schlüssel:
- Klare Aufgabenverteilung im Haushalt
- Gemeinsame Kalender nutzen
- Regelmäßige Paar-Gespräche einplanen
- Partner in die Therapie einbeziehen
Der Weg zur Besserung
ADHS verschwindet nicht einfach, aber mit der richtigen Behandlung und Strategien können Sie ein erfülltes Leben führen. Viele erfolgreiche Menschen haben ADHS und nutzen ihre besonderen Fähigkeiten wie Kreativität, Spontaneität und Begeisterungsfähigkeit zu ihrem Vorteil.
Erste Schritte
- Hausarzt konsultieren: Besprechen Sie Ihre Vermutung und lassen Sie sich überweisen
- Spezialist aufsuchen: Psychiater oder Psychotherapeut mit ADHS-Erfahrung
- Diagnose abwarten: Die Diagnostik kann mehrere Termine umfassen
- Behandlungsplan erstellen: Individuell angepasst an Ihre Bedürfnisse
- Geduld haben: Die optimale Einstellung braucht Zeit
Hilfreiche Ressourcen in Deutschland
- ADHS Deutschland e.V.: Selbsthilfeorganisation mit lokalen Gruppen
- Zentrales ADHS-Netz: Informationsportal mit Expertendatenbank
- Krankenkassen: Viele bieten spezielle ADHS-Programme an
- Integrationsfachdienste: Unterstützung am Arbeitsplatz
Fazit
ADHS bei Erwachsenen ist real, behandelbar und kein Grund zur Scham. Mit der richtigen Unterstützung können Sie lernen, mit den Herausforderungen umzugehen und Ihre Stärken zu nutzen. Der erste Schritt ist, die Anzeichen zu erkennen und professionelle Hilfe zu suchen. Sie sind nicht allein – in Deutschland gibt es ein gut ausgebautes Netzwerk an Hilfsangeboten.
Denken Sie daran: ADHS definiert nicht, wer Sie sind. Es ist nur ein Teil von Ihnen – und mit den richtigen Strategien können Sie ein erfolgreiches und glückliches Leben führen.



