Eine wissenschaftlich fundierte Übersicht über ein häufiges aber oft missverstandenes neurologisches Phänomen
Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn wäre ein Computer. Die Hardware ist völlig intakt, aber ein wichtiges Programm läuft nicht richtig. Genau so kann man sich eine Funktionelle Neurologische Störung (FNS) vorstellen – eine reale neurologische Erkrankung, bei der die Struktur des Gehirns normal ist, aber die Art und Weise, wie es funktioniert, gestört ist.
Was ist eine Funktionelle Neurologische Störung?
Eine Funktionelle Neurologische Störung ist eine neurologische Erkrankung, die durch Veränderungen in der Funktionsweise von Gehirnnetzwerken verursacht wird, nicht durch strukturelle Veränderungen im Gehirn selbst, wie sie bei anderen neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Schlaganfall auftreten. Die körperlichen Symptome sind echt, können aber nicht durch strukturelle Veränderungen im Gehirn erklärt werden.
FNS ist eine Erkrankung, die direkt an der Schnittstelle zwischen Neurologie und Psychiatrie steht – auch als „neuropsychiatrische” Störung bekannt. Bei FNS sind die normalen Bahnen, die das Gehirn für Bewegung, Fühlen, Sprechen, Gehen und/oder Denken nutzt, gestört.
Die Computer-Analogie verstehen
Es ist oft hilfreich, sich das Gehirn als Computer vorzustellen. Bei jemandem, der an FNS leidet, gibt es keinen Schaden an der Hardware oder Struktur des Gehirns. Es ist die Software oder das Programm, das auf dem Computer läuft, das nicht richtig funktioniert. Die Probleme entstehen auf einer Ebene des Gehirns, die Sie nicht bewusst kontrollieren können.
Häufigkeit und Bedeutung
FNS ist häufiger als viele Menschen denken. Etwa ein Drittel der Patienten in neurologischen Ambulanzen weisen funktionelle Symptome auf. Die Inzidenz liegt bei etwa 4 bis 12 pro 100.000 pro Jahr, wobei bevölkerungsbasierte Studien sogar Raten von 50 pro 100.000 pro Jahr zeigen.
Symptome der FNS
FNS kann eine Vielzahl von neurologischen Symptomen verursachen, die erheblich beeinträchtigen können:
Motorische Symptome
- Funktionelle Schwäche: Schwäche in Armen oder Beinen ohne strukturelle Ursache
- Funktionelle Bewegungsstörungen: Tremor, unwillkürliche Bewegungen oder Dystonie
- Gangstörungen: Probleme beim Gehen oder Gleichgewichtsstörungen
Sensorische Symptome
- Taubheitsgefühle oder Kribbeln
- Seh- oder Hörstörungen
- Sensibilitätsstörungen
Episodische Symptome
- Funktionelle oder dissoziative Anfälle (auch als psychogene nicht-epileptische Anfälle bekannt), die anfallsähnliche Episoden verursachen, die nicht auf abnorme elektrische Signale im Gehirn zurückzuführen sind.
Kognitive Symptome
- Schwierigkeiten mit Gedächtnis, Konzentration oder Wortfindung mit typischen Merkmalen, die mit einer FNS-Diagnose vereinbar sind.
Begleitsymptome
Weitere körperliche und psychische Symptome werden häufig von FNS-Patienten erlebt, darunter chronische Schmerzen, Müdigkeit, Schlafprobleme, Darm- und Blasensymptome, Angstzustände, Panikattacken und Depressionen.
Ursachen und Entstehung
Was wissen wir über die Ursachen?
Die genaue Ursache von FNS ist unbekannt, obwohl laufende Forschung beginnt, Hinweise darauf zu geben, wie und warum sie sich entwickelt. Viele verschiedene prädisponierende Faktoren können Patienten anfälliger für FNS machen, wie das Vorhandensein einer anderen neurologischen Erkrankung oder das Erleben chronischer Schmerzen, Müdigkeit oder Stress.
Risikofaktoren
- Andere neurologische Erkrankungen
- Chronische Schmerzen oder Müdigkeit
- Stress, besonders um die Zeit des Symptombeginns
- Kindesmissbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung und Lebensstress sind bei Menschen mit FNS häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Jedoch haben viele Menschen mit FNS keinen dieser Risikofaktoren.
Auslösende Faktoren
Studien haben gezeigt, dass es zum Zeitpunkt des FNS-Beginns auslösende Faktoren wie eine körperliche Verletzung, eine Infektionskrankheit, eine Impfung, eine Panikattacke oder Migräne geben kann, die jemandem die erste Erfahrung neurologischer Symptome vermitteln. Diese Symptome klingen normalerweise von selbst ab. Bei FNS werden die Symptome jedoch in einem „Muster” im Nervensystem „festgehalten”.
Diagnose von FNS
Klinische Diagnose
Es gibt keinen einzelnen Test oder Biomarker zur Bestätigung der FNS-Diagnose. Die Diagnose wird basierend auf der Anamnese, den Symptomen und einer körperlichen Untersuchung gestellt.
Positive diagnostische Zeichen
Es gibt einige Anzeichen, die auf FNS hinweisen, einschließlich des Hoover-Zeichens (ein körperlicher Test zur Identifizierung funktioneller Schwäche in den Beinen) und des sogenannten „Entrainment” bei Tremor.
Bildgebung und Tests
Herkömmliche strukturelle MRT-Hirnscans sind bei FNS normalerweise normal, es sei denn, die Person hat eine andere neurologische Erkrankung. Spezielle funktionelle Hirnscans (fMRI), die in der Forschung verwendet werden und Muster der Gehirnaktivität zeigen, beginnen frühe Beweise dafür zu liefern, wie das Gehirn bei FNS falsch funktioniert.
Moderne Behandlungsansätze
Grundprinzipien der Behandlung
Eine starke, bidirektionale Kommunikation zwischen dem Gesundheitsdienstleister und dem Patienten ist wichtig für eine effektive Behandlung von FNS. Dies hilft, das Verständnis des Patienten für die Störung zu verbessern und ihn aktiv in seine eigene Behandlung einzubeziehen.
Multidisziplinärer Ansatz
Ein Team von Ärzten und Gesundheitsfachkräften aus verschiedenen Fachbereichen sollte mit dem Einzelnen zusammenarbeiten, um eine Kombination von Behandlungen und umfassende Betreuung anzubieten.
Physiotherapie als Kernbehandlung
Warum Physiotherapie bei FNS anders ist
Bei FNS ist die Bewegung meist schlechter, wenn jemand denkt oder sich wirklich anstrengt, eine Bewegung zu machen. Aber ihre „automatischen” Bewegungen, die sie ausführen, wenn sie abgelenkt sind oder an etwas anderes denken, sind meist viel besser oder normal.
FNS-spezifische Physiotherapie-Prinzipien
Im Gegensatz zur Behandlung der meisten neurologischen Erkrankungen, bei denen der Therapeut die Aufmerksamkeit auf den betroffenen Bereich oder die Gliedmaße lenkt, besteht der Ansatz bei FNS darin, natürliche oder automatisierte Bewegungen in einem funktionellen Umfeld zu fördern und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf das Symptom oder die betroffene Gliedmaße zu minimieren.
Wirksamkeit der Physiotherapie
Wissenschaftliche Belege zur Unterstützung der Physiotherapie waren begrenzt, aber in den letzten Jahren wurden mehrere qualitativ hochwertige wissenschaftliche Studien veröffentlicht. Diese zeigen, dass körperliche Rehabilitation basierend auf einem Verständnis von FNS bei 60 bis 70 Prozent der Menschen zu einer Verbesserung der Symptome führen kann.
In einer Studie von Nielsen et al. zeigten Teilnehmer eines einzigartigen FNS-Rehabilitationsprogramms eine 72%ige Verbesserungsrate der Symptome nach sechs Monaten Teilnahme an einem einwöchigen speziellen FNS-Rehabilitationsprogramm, verglichen mit Teilnehmern in Standard-Physiotherapie, die eine 28%ige Verbesserungsrate nach sechs Monaten zeigten.
Psychotherapie und psychologische Unterstützung
Kognitive Verhaltenstherapie
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) kann einer Person helfen, ihre Denkmuster zu verändern, um Emotionen, Stimmung oder Verhalten zu ändern.
Psychodynamische Therapie
Psychodynamische Therapie kann Menschen dabei helfen, Muster in Gedanken, Überzeugungen und Emotionen zu identifizieren und zu lösen, die einige der neurologischen Symptome verursachen können.
Prognose und Heilungschancen
Reversibilität der Symptome
FNS-Symptome sind potenziell reversibel. Es ist wichtig, das Potenzial für Verbesserung mit der Behandlung zu vermitteln.
Faktoren für bessere Ergebnisse
- Frühzeitige Diagnose und Behandlung
- Gute Behandlungstreue
- Multidisziplinärer Behandlungsansatz
- Verständnis und Akzeptanz der Diagnose
Wichtige Missverständnisse aufklären
„Es ist nicht eingebildet”
Das häufigste Missverständnis ist, dass FNS-Patienten die Kontrolle über einige oder alle ihrer Symptome haben. Der Patient produziert funktionelle Symptome nicht bewusst.
FNS ist ein ECHTES gehirnbasiertes Problem – es ist nichts, was Sie sich einbilden, erfinden oder selbst verursachen.
Nicht nur psychisch
Es ist auch nicht dasselbe wie oder ausschließlich verursacht durch Dinge wie Stress, Angst oder Depression. Psychologische Faktoren können Risiko- oder auslösende Elemente für einige Personen sein, aber sie sind nur ein Teil des gesamten klinischen Bildes.
Forschung und Zukunftsperspektiven
Bildgebende Verfahren
fMRT-Scans zeigen Veränderungen bei Patienten mit FNS, die anders aussehen als bei gesunden Patienten ohne diese Symptome und sich auch von gesunden Menschen unterscheiden, die vorgeben, diese Symptome zu haben. Scans unterstützen, was Patienten und Forscher bereits wissen – dies sind echte Störungen, bei denen es eine Veränderung in der Gehirnfunktion gibt, die außerhalb der Kontrolle der Person mit FNS liegt.
Neue Behandlungsansätze
Die Forschung entwickelt kontinuierlich neue Behandlungsmethoden, einschließlich:
- Virtueller Realität in der Rehabilitation
- Verbesserte physiotherapeutische Protokolle
- Personalisierte Behandlungsansätze
Praktische Ratschläge für Betroffene
Bei Verdacht auf FNS
- Suchen Sie einen Neurologen oder Neuropsychiater auf
- Führen Sie ein Symptomtagebuch
- Bereiten Sie sich auf eine ausführliche Anamnese vor
- Bringen Sie alle bisherigen Untersuchungsergebnisse mit
Während der Behandlung
- Seien Sie geduldig – Verbesserung braucht Zeit
- Befolgen Sie die Therapiepläne konsequent
- Kommunizieren Sie offen mit Ihrem Behandlungsteam
- Suchen Sie sich Unterstützung von Familie und Freunden
Langfristige Perspektive
Rückschläge sind meist häufiger als nicht und passieren manchmal ohne ersichtlichen Grund. Das bedeutet normalerweise nicht, dass die Behandlung falsch ist, es spiegelt nur wider, dass dies kein einfaches Problem ist, aber Physiotherapie ist eine von vielen Behandlungen, die einen echten Unterschied machen kann.
Fazit
Funktionelle Neurologische Störungen sind reale, oft beeinträchtigende neurologische Erkrankungen, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinflussen können. Das Verständnis für FNS hat sich in den letzten Jahren dramatisch verbessert, und es stehen nun evidenzbasierte Behandlungen zur Verfügung.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt in:
- Früher und korrekter Diagnose
- Multidisziplinärer Behandlung
- Spezialisierter Physiotherapie
- Psychologischer Unterstützung bei Bedarf
- Geduld und Verständnis aller Beteiligten
Frühe Diagnose und Behandlung, insbesondere Aufklärung über die Erkrankung, können bei der Genesung helfen. Für Menschen mit FNS gibt es Hoffnung und echte Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Lebensqualität.
Dieser Artikel basiert auf aktueller wissenschaftlicher Literatur und Expertenkonsens. Bei Verdacht auf FNS wenden Sie sich bitte an einen qualifizierten Neurologen oder Neuropsychiater.