Myasthenia Gravis (MG) ist eine Autoimmunerkrankung, die die neuromuskuläre Übertragung beeinträchtigt und zu Muskelschwäche führt. Für Frauen mit MG, die eine Schwangerschaft planen oder bereits schwanger sind, ergeben sich besondere Herausforderungen und Überlegungen. Dieser Artikel fasst den aktuellen medizinischen Kenntnisstand zum Thema Myasthenia Gravis und Schwangerschaft zusammen und bietet praktische Hinweise für Betroffene.
Grundlegendes zur Myasthenia Gravis
Myasthenia Gravis ist eine Erkrankung, bei der Antikörper die Acetylcholinrezeptoren an der neuromuskulären Endplatte blockieren. Dies führt zu einer gestörten Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln und resultiert in Muskelschwäche, die typischerweise bei wiederholter Anstrengung zunimmt und sich nach Ruhe verbessert. Häufig betroffene Muskelgruppen sind:
- Augenmuskulatur (Ptosis, Doppelbilder)
- Gesichts- und Bulbärmuskulatur (Schwierigkeiten beim Kauen, Schlucken, Sprechen)
- Extremitätenmuskulatur
- Atemmuskulatur (in schweren Fällen)
Auswirkungen der Schwangerschaft auf Myasthenia Gravis
Der Verlauf von MG während der Schwangerschaft ist nicht vorhersehbar und kann individuell sehr unterschiedlich sein. Basierend auf wissenschaftlichen Studien lässt sich Folgendes feststellen:
- Erster Trimester: Etwa 30% der Frauen erleben eine Verschlechterung der MG-Symptome.
- Zweites Trimester: Die meisten Patientinnen berichten über eine Stabilisierung oder sogar Verbesserung der Symptome.
- Drittes Trimester: Bei einigen Frauen verschlechtern sich die Symptome wieder, was auf die zunehmende körperliche Belastung zurückzuführen sein könnte.
- Postpartale Phase: In den ersten Wochen nach der Entbindung besteht ein erhöhtes Risiko für Exazerbationen (etwa 30%).
Es gibt keine wissenschaftlich belegten Hinweise darauf, dass eine Schwangerschaft langfristig den Verlauf von MG verschlechtert.
Risiken und Komplikationen
Für die Mutter:
- Myasthene Krisen: Das Risiko für schwere Verschlechterungen mit Ateminsuffizienz ist während der Schwangerschaft und postpartal erhöht.
- Geburtskomplikationen: Die Muskelschwäche kann die Wehen und das aktive Pressen während der zweiten Geburtsphase beeinträchtigen.
- Medikamentöse Therapie: Die Notwendigkeit, die MG-Medikation fortzusetzen, muss gegen potenzielle fetale Risiken abgewogen werden.
Für das Kind:
- Neonatale transitorische Myasthenia Gravis (NTMG): Bei 10-20% der Neugeborenen von Müttern mit MG tritt eine vorübergehende Muskelschwäche auf, da maternale Antikörper die Plazentaschranke passieren können. Die Symptome klingen in der Regel innerhalb von 2-4 Wochen ab.
- Arthrogrypose: In sehr seltenen Fällen können reduzierte fetale Bewegungen durch maternale Antikörper zu kongenitalen Gelenkfehlstellungen führen.
Medizinische Betreuung während der Schwangerschaft
Präkonzeptionelle Beratung
Eine Planung der Schwangerschaft ist ideal und sollte folgende Aspekte umfassen:
- Optimierung der MG-Therapie vor der Konzeption
- Umstellung potenziell fetotoxischer Medikamente auf sicherere Alternativen
- Besprechung der individuellen Risiken
Interdisziplinäre Betreuung
Die Betreuung sollte durch ein Team aus folgenden Spezialisten erfolgen:
- Neurologe mit Erfahrung in neuromuskulären Erkrankungen
- Gynäkologe/Geburtshelfer mit Erfahrung in Hochrisikoschwangerschaften
- Anästhesist (für die Geburtsplanung)
- Neonatologe
Medikamentöse Therapie
Die meisten MG-Medikamente müssen während der Schwangerschaft fortgesetzt werden, um eine Verschlechterung zu vermeiden:
- Cholinesterasehemmer (z.B. Pyridostigmin): Gelten als relativ sicher während der Schwangerschaft (FDA-Kategorie B).
- Kortikosteroide: Können bei Bedarf eingesetzt werden. In hohen Dosen besteht ein leicht erhöhtes Risiko für Gaumenspalten im ersten Trimester und für fetale Wachstumsretardierung.
- Immunsuppressiva:
- Azathioprin: Kann fortgesetzt werden, wenn die Erkrankung damit gut kontrolliert ist.
- Mycophenolat-Mofetil und Methotrexat: Kontraindiziert aufgrund teratogener Wirkung.
- Intravenöse Immunglobuline (IVIG) und Plasmapherese: Werden als sicher während der Schwangerschaft angesehen und können bei Exazerbationen eingesetzt werden.
Geburtsplanung und Entbindung
Geburtsmodus
Eine vaginale Entbindung ist für die meisten Patientinnen mit MG möglich und bevorzugt. Ein Kaiserschnitt sollte nur aus geburtshilflichen Indikationen durchgeführt werden. Wichtige Überlegungen sind:
- Die zweite Geburtsphase kann verlängert sein und eventuell eine instrumentelle Entbindung erfordern.
- Die Muskelkraft sollte während der Wehen regelmäßig überwacht werden.
- Eine Verkürzung der zweiten Geburtsphase kann erwogen werden, um die Erschöpfung zu minimieren.
Anästhesie
- Regionalanästhesie (Epidural- oder Spinalanästhesie) ist vorzuziehen und gilt als sicher.
- Allgemeinanästhesie kann problematisch sein: MG-Patienten können eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Muskelrelaxanzien aufweisen und nach der Operation ein erhöhtes Risiko für respiratorische Komplikationen haben.
Postpartale Phase
Für die Mutter:
- Engmaschige neurologische Überwachung in den ersten Wochen nach der Entbindung wegen des erhöhten Exazerbationsrisikos
- Anpassung der MG-Medikation nach Bedarf
- Unterstützung bei der Babyversorgung, da körperliche Erschöpfung Symptome verschlimmern kann
Für das Neugeborene:
- Überwachung auf Anzeichen von NTMG (Trinkschwäche, schwacher Schrei, Atemprobleme) für mindestens 72 Stunden
- Bei Symptomen kann eine Behandlung mit Cholinesterasehemmern oder supportiven Maßnahmen erforderlich sein
Stillzeit
Stillen ist für Frauen mit MG grundsätzlich möglich, jedoch sollten folgende Aspekte beachtet werden:
- Pyridostigmin und Prednisolon gelten als relativ sicher während der Stillzeit
- Bei Immunsuppressiva sollte eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen
- Stillen kann körperlich anstrengend sein und sollte bei Erschöpfung durch Abpumpen oder Teil-Flaschenernährung ergänzt werden
Praktische Tipps für den Alltag
- Energiemanagement: Regelmäßige Pausen einplanen, Aktivitäten auf Zeiten mit besserer Muskelkraft legen
- Unterstützungsnetzwerk: Familie, Freunde und professionelle Hilfe für die Babyversorgung einplanen
- Symptomtagebuch: Tägliche Aufzeichnung der Symptome kann helfen, Muster zu erkennen und die Therapie anzupassen
- Notfallplan: Erstellen eines Plans für den Fall einer myasthenen Krise, einschließlich Kontaktdaten der behandelnden Ärzte
Fazit
Eine Schwangerschaft ist für die meisten Frauen mit Myasthenia Gravis möglich und führt in der Regel zu einem gesunden Kind. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer sorgfältigen Planung, einer interdisziplinären Betreuung und einer engen Überwachung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung. Obwohl es spezifische Risiken gibt, können diese durch ein proaktives Management minimiert werden.
Die Entscheidung für eine Schwangerschaft sollte individuell nach ausführlicher Beratung durch das medizinische Team getroffen werden, wobei der aktuelle MG-Status, die Medikation und persönliche Faktoren berücksichtigt werden sollten.
Quellen und weiterführende Literatur
- Norwood F, et al. European Federation of Neurological Societies guideline on management of myasthenia gravis. European Journal of Neurology, 2010.
- Hamel J, Ciafaloni E. An update: Myasthenia gravis and pregnancy. Neurologic Clinics, 2018.
- Gilhus NE, et al. Myasthenia gravis and pregnancy. Neurology, 2018.
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: Myasthenia gravis.
- Österreichische Gesellschaft für Neurologie. Konsensuspapier zur Behandlung der Myasthenia gravis und des Lambert-Eaton-Syndroms.