Chronische Schmerzen bei Parkinson: Zwei Drittel der Patienten betroffen
Neue Studie zeigt: 66% der Parkinson-Patienten leiden unter chronischen Schmerzen. Frauen sind besonders betroffen. Erfahren Sie mehr über Ursachen und Behandlung.
Stellen Sie sich vor, Sie leben mit Parkinson – und neben den typischen Bewegungsstörungen wie Zittern und Steifheit plagt Sie ein ständiger, zermürbender Schmerz. Für Maria, 68, bedeutet das: Schmerzen im unteren Rücken beim Aufstehen, ein Brennen in den Beinen beim Gehen und nächtliche Rückenschmerzen, die den Schlaf rauben. Was viele nicht wissen: Maria steht mit ihren Beschwerden nicht allein da. Eine bahnbrechende australische Studie mit über 10.000 Parkinson-Patienten zeigt jetzt das wahre Ausmaß dieses oft übersehenen Symptoms.
Die unterschätzte Last: Chronische Schmerzen bei Parkinson
Chronische Schmerzen bei Parkinson sind weit verbreitet – doch in der klinischen Praxis werden sie häufig übersehen oder nicht angemessen behandelt. Die im Journal “Annals of Clinical and Translational Neurology” veröffentlichte Untersuchung der Australian Parkinson’s Genetics Study (APGS) liefert nun erstmals umfassende Daten aus einer der größten Parkinson-Kohorten weltweit [1].
Die Zahlen sind alarmierend: Zwei Drittel (66,2%) der untersuchten Parkinson-Patienten berichten über chronische Schmerzen – definiert als Schmerzen, die länger als drei Monate andauern und an den meisten Tagen oder täglich auftreten. Zum Vergleich: In der allgemeinen australischen Bevölkerung über 70 Jahren liegt die Prävalenz chronischer Schmerzen bei etwa 23% bei Männern und 30% bei Frauen – die Belastung für Parkinson-Patienten ist also deutlich höher.
Frauen leiden stärker: Geschlechtsunterschiede bei Parkinson-Schmerzen
Ein besonders wichtiger Befund der Studie betrifft die deutlichen Geschlechtsunterschiede: Während 70,8% der Frauen mit Parkinson über chronische Schmerzen berichteten, waren es bei den Männern 63,5%. Doch nicht nur die Häufigkeit unterscheidet sich – Frauen bewerteten ihre Schmerzintensität im Durchschnitt auch höher (4,7 von 10 Punkten) als Männer (4,3 von 10 Punkten) [1].
Diese Unterschiede könnten auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sein:
Biologische Faktoren: Hormone wie Östrogen und Testosteron beeinflussen die Schmerzverarbeitung. Die Forschung zeigt, dass genetische Varianten wie der DRD2-Polymorphismus rs2283265 bei Frauen mit einem erhöhten Risiko für Parkinson-bedingte Schmerzen verbunden sind [1].
Neurophysiologische Unterschiede: Frauen zeigen eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, die durch hormonelle Schwankungen, Unterschiede im Opioid-System und stressbedingte Faktoren verstärkt werden kann.
Psychosoziale Aspekte: Studien deuten darauf hin, dass Frauen Schmerzen möglicherweise offener kommunizieren, während Männer dazu neigen, Beschwerden zu unterreportieren.
Wo tut es weh? Die anatomische Verteilung der Schmerzen
Die Forscher erstellten eine detaillierte “Schmerzlandkarte” des Körpers, indem sie 66 verschiedene Körperregionen untersuchten. Die am häufigsten betroffenen Bereiche waren [1]:
- Gesäßregion: 35,6% (rechts) und 32,6% (links)
- Unterer Rücken: 25,4% (rechts) und 22,2% (links)
- Nacken: Etwa 19,4% der Patienten
- Knie: 17,2% (rechts) und 13,5% (links)
Interessanterweise zeigte die Analyse, dass Patienten mit höherer Schmerzintensität auch mehr Körperregionen als schmerzhaft angaben – ein Hinweis auf die Ausbreitung und Komplexität des Schmerzgeschehens bei Parkinson.
Was bedeutet das für Betroffene?
Die Schmerzverteilung gibt wichtige Hinweise auf die zugrunde liegenden Mechanismen. Rücken- und Nackenschmerzen können durch die für Parkinson typische Haltungsinstabilität (posturale Instabilität) und Muskelsteifigkeit verstärkt werden. Die Schmerzen im Gesäß- und Kniebereich deuten oft auf muskuloskelettale Probleme hin, die durch veränderte Bewegungsmuster und Dystonie (unwillkürliche Muskelkontraktionen) entstehen.
Die Rolle von Begleiterkrankungen und Lebensstilfaktoren
Die Studie identifizierte mehrere Faktoren, die unabhängig mit einem erhöhten Risiko für chronische Schmerzen bei Parkinson verbunden sind [1]:
Medizinische Begleiterkrankungen:
- Depression: 33,2% der Schmerzpatienten berichteten über Depressionen – ein bidirektionaler Zusammenhang, bei dem Schmerz und Depression sich gegenseitig verstärken können
- Schlafstörungen: Besonders REM-Schlafverhaltensstörung und Schlafapnoe waren häufig
- Arthrose und Osteoporose: Verstärken die Schmerzlast zusätzlich
- Restless-Legs-Syndrom: 15,8% der Schmerzpatienten betroffen
Lebensstil und Umweltfaktoren:
- Pestizid-Exposition: Männer mit Parkinson und chronischen Schmerzen berichteten signifikant häufiger über Pestizidkontakt (44,4% vs. 29,7% bei Frauen)
- Höherer Body-Mass-Index (BMI): Übergewicht erhöht die Schmerzwahrscheinlichkeit
- Alkoholkonsum und Rauchen: Assoziiert mit höherer Schmerzprävalenz
- Schwermetallbelastung: Seltener, aber mit erhöhtem Schmerzrisiko verbunden
Warum entstehen chronische Schmerzen bei Parkinson?
Die Pathophysiologie (krankhafte Veränderungen) der Parkinson-Schmerzen ist komplex und noch nicht vollständig verstanden. Experten gehen von mehreren Mechanismen aus [1]:
Zentrale Mechanismen: Das Parkinson-typische Absterben dopaminerger Nervenzellen betrifft nicht nur die Bewegungskontrolle, sondern auch Gehirnregionen, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind. Dies führt zu einer veränderten Schmerzwahrnehmung und -hemmung.
Periphere Mechanismen: Muskelsteifigkeit (Rigor), unwillkürliche Bewegungen (Dyskinesien) und Fehlhaltungen belasten Muskeln, Sehnen und Gelenke und führen zu muskuloskelettalen Schmerzen.
Nociplastische Schmerzen: Diese Form des Schmerzes entsteht durch eine veränderte zentrale Schmerzverarbeitung, ohne dass Gewebe geschädigt ist – ein Mechanismus, der bei chronischen Schmerzen bei Parkinson eine wichtige Rolle spielen könnte.
Neurotransmitter-Dysregulation: Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass eine Störung des Glutamat-Systems – des wichtigsten erregenden Neurotransmitters im Gehirn – sowohl bei Depression als auch bei chronischen Schmerzen eine Rolle spielt und beide Symptome bei Parkinson verstärken könnte.
Jüngere Patienten stärker betroffen
Ein überraschendes Ergebnis der Studie: Jüngere Parkinson-Patienten berichteten häufiger über chronische Schmerzen als ältere. Dies widerspricht der allgemeinen Annahme, dass Schmerzen mit zunehmendem Alter häufiger werden [1].
Die Forscher vermuten mehrere Erklärungen: Jüngere Menschen könnten intensivere Schmerzen erleben aufgrund stärkerer motorischer Dysfunktion, erhöhtem psychosozialen Stress (Beruf, Familie) und größerer neuroplastischer Veränderungen im Gehirn. Ältere Menschen hingegen entwickeln möglicherweise eine gewisse Schmerz-Toleranz oder tendieren dazu, Schmerzen als “normalen Teil des Alterns” zu akzeptieren und seltener zu berichten.
Was bedeutet das für die Behandlung?
Die Studienergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit eines umfassenden, multidisziplinären Ansatzes zur Schmerzbehandlung bei Parkinson:
Medizinische Interventionen:
- Optimierung der Parkinson-Medikation, besonders bei “Off”-Phasen-Schmerzen
- Behandlung von Begleiterkrankungen wie Depression und Schlafstörungen
- Schmerzmedikation unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen
Nicht-medikamentöse Therapien:
- Physiotherapie zur Verbesserung der Haltung und Beweglichkeit
- Ergotherapie für Alltagsaktivitäten
- Psychologische Unterstützung bei Depression und Schmerzverarbeitung
Lebensstilmodifikation:
- Gewichtsmanagement bei erhöhtem BMI
- Bewegung und angepasstes Training
- Schlafhygiene zur Verbesserung der Schlafqualität
Geschlechtsspezifische Ansätze: Die deutlichen Geschlechtsunterschiede erfordern individualisierte Behandlungsstrategien, die hormonelle, biologische und psychosoziale Faktoren berücksichtigen.
Einschränkungen und Ausblick
Wie bei jeder Studie gibt es auch hier Einschränkungen: Das Querschnittsdesign erlaubt keine Aussagen über Ursache und Wirkung. Die Selbstberichterstattung durch Fragebögen kann zu Verzerrungen führen, und Patienten mit fortgeschrittenem Parkinson oder kognitiven Einschränkungen könnten unterrepräsentiert sein [1].
Dennoch liefert diese Studie die bisher umfassendsten Daten zu chronischen Schmerzen bei Parkinson und betont die dringende Notwendigkeit, dieses Symptom in der klinischen Praxis stärker zu beachten.
Fazit: Schmerzen bei Parkinson ernst nehmen
Chronische Schmerzen sind bei Parkinson die Regel, nicht die Ausnahme. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich und erfordern eine ebenso intensive Aufmerksamkeit wie die motorischen Symptome. Für Betroffene und ihre Angehörigen ist es wichtig zu wissen: Schmerzen bei Parkinson sind real, sie sind häufig – und sie können behandelt werden.
Wenn Sie oder ein Angehöriger mit Parkinson unter chronischen Schmerzen leiden, sprechen Sie aktiv mit Ihrem Neurologen darüber. Eine umfassende Schmerzanamnese, die Identifikation von Begleiterkrankungen und ein individueller Behandlungsplan können entscheidend zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen.
Die Forschung steht nicht still: Zukünftige Studien werden hoffentlich die zugrunde liegenden Mechanismen weiter aufklären und neue, gezielte Therapieansätze entwickeln – besonders für geschlechtsspezifische Behandlungsstrategien und die Rolle von Umweltfaktoren.
Referenzen
[1] Ogonowski, N.S., Chafota, F., Cao, F., et al. (2025). Chronic Pain in Parkinson’s Disease: Prevalence, Sex Differences, Regional Anatomy and Comorbidities. Annals of Clinical and Translational Neurology. https://doi.org/10.1002/acn3.70174
Medizinischer Hinweis: Dieser Artikel dient ausschließlich der Information und ersetzt keine ärztliche Beratung. Bei Beschwerden wenden Sie sich bitte an Ihren Neurologen oder Hausarzt. Ändern Sie niemals eigenmächtig Ihre Medikation.



