Warum unser Gehirn einfache Erklärungen liebt – und wann das gefährlich wird
Neue Forschung zeigt: Unser Gehirn bevorzugt einfache Erklärungen, selbst wenn sie falsch sind. Was das für Diagnosen und Gesundheitsentscheidungen bedeutet.
Wenn Einfachheit trügt
Stellen Sie sich vor: Sie leiden seit Wochen unter Kopfschmerzen und Müdigkeit. Ihr Arzt erwähnt eine mögliche Ursache – vielleicht Eisenmangel. Erleichtert nicken Sie. Eine klare Erklärung, ein einfaches Problem. Doch was, wenn mehrere Faktoren zusammenspielen – Eisenmangel und Schlafmangel und Stress? Warum fühlt sich die einfache Erklärung so viel befriedigender an?
Eine preisgekrönte Studie der Mississippi State University liefert nun erstaunliche Einblicke in diese menschliche Tendenz – und erklärt, warum sie bei Gesundheitsentscheidungen problematisch werden kann [1].
Die Simplizitäts-Falle: Wie unser Gehirn uns austrickst
Dr. Thalia H. Vrantsidis, Assistenzprofessorin für kognitive Wissenschaften, hat für ihre Arbeit “Inside Ockham’s Razor” den renommierten Best Article Award 2025 der Psychonomic Society erhalten. Ihre Forschung zeigt: Menschen bevorzugen systematisch einfache Erklärungen – selbst dann, wenn komplexere Erklärungen objektiv wahrscheinlicher oder genauer sind.
Das Kernproblem: Unser Gehirn konzentriert sich auf sichtbare, vorhandene Ursachen, während es abwesende oder versteckte Faktoren systematisch ausblendet. Diese kognitive Verzerrung (ein systematischer Denkfehler) führt dazu, dass wir Situationen zu stark vereinfachen.
Die Studie: 982 Menschen und ihre Erklärungspräferenzen
In drei Experimenten mit insgesamt 982 Teilnehmern aus den USA untersuchte Vrantsidis gemeinsam mit ihrer Kollegin Tania Lombrozo von der Princeton University, wie Menschen Erklärungen bewerten.
Ein typisches Szenario aus der Studie: Teilnehmer sollten die Symptome eines Patienten erklären. Sie erhielten zwei Optionen:
- Option A: Eine einzelne Krankheit verursacht alle Symptome
- Option B: Eine Kombination von zwei verschiedenen Erkrankungen führt zu den Symptomen
Das Ergebnis war eindeutig: Selbst wenn Option B objektiv wahrscheinlicher war, bevorzugten die meisten Menschen die Ein-Ursachen-Erklärung. Warum? Weil sie die Abwesenheit der zweiten Krankheit bei Option A nicht aktiv in ihre Überlegungen einbezogen.
Was bedeutet das für Ihre Gesundheit?
Diese Forschung hat weitreichende praktische Konsequenzen für den medizinischen Alltag:
Bei Diagnosen und Symptombewertung
“Nur weil eine Ursache offensichtlich ist, bedeutet das nicht, dass nicht auch andere Faktoren eine Rolle spielen”, erklärt Vrantsidis [1]. Dies ist besonders relevant bei:
- Chronischen Erkrankungen: Selten gibt es nur einen Auslöser für anhaltende Beschwerden
- Neurologischen Symptomen: Kopfschmerzen, Schwindel oder Gedächtnisprobleme können multifaktorielle Ursachen haben
- Nebenwirkungen von Medikamenten: Neue Symptome können sowohl von der Grunderkrankung als auch von der Behandlung herrühren
Bei Behandlungsentscheidungen
Die Simplizitäts-Falle kann dazu führen, dass Patienten:
- Zu früh mit der Ursachensuche aufhören
- Ergänzende Behandlungsansätze ablehnen
- Widersprüchliche Symptome ignorieren
Warum macht unser Gehirn das?
Evolutionär betrachtet ist die Vorliebe für einfache Erklärungen durchaus sinnvoll. Im Alltag funktioniert die “Ockhams Rasiermesser”-Regel (die einfachste Erklärung ist meist die richtige) erstaunlich gut und spart mentale Energie.
Das Problem: In komplexen Situationen – wie bei Gesundheitsfragen – kann diese Abkürzung zu fehlerhaften Schlussfolgerungen führen. Vrantsidis spricht von einer “Übergeneralisierung” einer ansonsten nützlichen Denkstrategie.
Die gute Nachricht: Sie können gegensteuern
Die Studie zeigt auch Lösungsansätze auf. In zwei Experimenten konnten die Forscher die Präferenz für übermäßig vereinfachte Erklärungen reduzieren:
Strategie 1: Abwesenheit sichtbar machen Wenn Teilnehmer explizit darauf hingewiesen wurden, dass die Abwesenheitbestimmter Faktoren notwendig war, um die beobachteten Effekte zu erzielen, bewerteten sie Erklärungen ausgewogener.
Strategie 2: Alternative Effekte betrachten Wenn abwesende Ursachen als Faktoren beschrieben wurden, die andereEffekte hätten produzieren können, verbesserte sich die Urteilsfähigkeit ebenfalls.
Praktische Tipps für den Arztbesuch
Nutzen Sie diese wissenschaftlichen Erkenntnisse für bessere Gesundheitsentscheidungen:
- Fragen Sie nach Alternativen: “Könnte es auch mehrere Ursachen geben?”
- Hinterfragen Sie schnelle Antworten: Bei komplexen oder chronischen Beschwerden lohnt sich eine gründliche Differenzialdiagnostik (systematischer Ausschluss verschiedener Erkrankungen)
- Dokumentieren Sie Unstimmigkeiten: Passen nicht alle Symptome zur vorgeschlagenen Erklärung?
- Fordern Sie eine Zweitmeinung ein: Besonders wenn die Diagnose nicht zu Verbesserungen führt
Was diese Forschung für die Zukunft bedeutet
“Ich war schon immer fasziniert von der Freude, die Menschen empfinden, wenn sie etwas gut verstehen – von den ‘Aha-Momenten’, die durch eine klare Erklärung entstehen”, erklärt Vrantsidis. “Meine Arbeit untersucht, was wir an Erklärungen schätzen – warum Einfachheit hilfreich sein kann und wann sie uns in die Irre führt” [1].
Diese Erkenntnisse könnten:
- Die medizinische Ausbildung verbessern (bewusstere Differenzialdiagnostik)
- Aufklärungsmaterialien für Patienten optimieren
- Diagnosesysteme und klinische Leitlinien verfeinern
Fazit: Balance zwischen Einfachheit und Genauigkeit
Die Forschung von Vrantsidis macht deutlich: Unser Streben nach einfachen Erklärungen ist tief in unserer Psychologie verankert – und meist auch hilfreich. Doch gerade bei Gesundheitsfragen lohnt es sich, innezuhalten und zu fragen: “Welche Faktoren übersehe ich möglicherweise?”
Die wichtigste Erkenntnis für Sie: Eine gute medizinische Erklärung ist nicht unbedingt die einfachste, sondern die, die Ihre Realität am besten abbildet – auch wenn das bedeutet, dass mehrere Faktoren zusammenspielen.
Indem wir uns dieser kognitiven Verzerrung bewusst werden, können wir bessere Gesundheitsentscheidungen treffen und Denkfehler vermeiden, die ernste Konsequenzen haben könnten.
Referenzen
[1] Vrantsidis, T. H., & Lombrozo, T. (2024). Inside Ockham’s razor: A mechanism driving preferences for simpler explanations. Memory & Cognition, April 2024. Mississippi State University. Originalquelle: https://neurosciencenews.com/simple-explainations-psychology-29879/



