SSRIs könnten den kognitiven Verfall bei Demenzpatienten beschleunigen
Eine neue schwedische Studie liefert beunruhigende Erkenntnisse über Antidepressiva
In der Behandlung von Demenzpatienten stehen Ärzte oft vor der Herausforderung, nicht nur die kognitiven Symptome zu behandeln, sondern auch begleitende psychische Beschwerden wie Depression und Angstzustände. Eine neue, umfangreiche schwedische Kohortenstudie wirft nun ein kritisches Licht auf die Verwendung von Antidepressiva bei Demenzpatienten – mit Ergebnissen, die zum Nachdenken anregen.
Die Studie im Überblick
Die im Journal “BMC Medicine” (2025) veröffentlichte Studie unter der Leitung von Minjia Mo und Kollegen untersuchte den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antidepressiva und dem kognitiven Verfall bei Demenzpatienten. Die Forscher analysierten Daten von 18.740 Patienten aus dem Swedish Registry for Cognitive/Dementia Disorders (SveDem), einem nationalen Register, das seit 2007 Patienten mit neu diagnostizierter Demenz erfasst.
Von diesen Patienten erhielten 4.271 (22,8%) mindestens ein Rezept für ein Antidepressivum. Die Studie verfolgte die Patienten über durchschnittlich 4,3 Jahre und untersuchte den Zusammenhang zwischen der Verwendung von Antidepressiva und mehreren Ergebnissen, darunter:
- Kognitive Veränderungen (gemessen am Mini-Mental State Examination, MMSE)
- Entwicklung einer schweren Demenz (definiert als MMSE < 10)
- Frakturrisiko
- Sterblichkeit
Hauptergebnisse: Schnellerer kognitiver Verfall
Die Ergebnisse sind beunruhigend: Im Vergleich zu Patienten, die keine Antidepressiva einnahmen, zeigten Antidepressiva-Nutzer einen schnelleren kognitiven Verfall:
- Antidepressiva allgemein: -0,30 Punkte/Jahr in der MMSE-Skala
- Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs): -0,39 Punkte/Jahr
- Spezifische SSRIs zeigten unterschiedliche Auswirkungen:
- Sertralin: -0,25 Punkte/Jahr
- Citalopram: -0,41 Punkte/Jahr
- Escitalopram: -0,76 Punkte/Jahr
- Mirtazapin (aus der Gruppe “andere Antidepressiva”): -0,19 Punkte/Jahr
Besonders bemerkenswert: Beim direkten Vergleich verschiedener SSRIs zeigte Escitalopram einen deutlich schnelleren kognitiven Verfall als Sertralin, während Citalopram mit einem langsameren Verfall im Vergleich zu Sertralin assoziiert war.
Dosis-Wirkungs-Beziehung und erhöhte Risiken
Ein weiteres besorgniserregendes Ergebnis war die festgestellte Dosis-Wirkungs-Beziehung. Höhere Dosierungen von SSRIs waren mit folgenden Risiken verbunden:
- Stärkerer kognitiver Verfall
- Höheres Risiko für schwere Demenz (Hazard Ratio = 1,35)
- Erhöhtes Sterberisiko (Hazard Ratio = 1,18)
- Erhöhtes Frakturrisiko (Hazard Ratio = 1,25)
Auswirkungen nach Demenztyp
Die Studie differenzierte auch zwischen verschiedenen Demenztypen:
- Alzheimer-Demenz und gemischte Demenz: -0,28 Punkte/Jahr
- Vaskuläre Demenz: -0,27 Punkte/Jahr
- Lewy-Körper-Demenz und Parkinson-Demenz: Kein signifikanter Einfluss
- Frontotemporale Demenz: Überraschenderweise zeigte sich bei jüngeren Patienten (<78 Jahre) mit dieser Demenzform ein verlangsamter kognitiver Verfall unter Antidepressiva (1,61 Punkte/Jahr)
Wer ist besonders gefährdet?
Nicht alle Patienten reagierten gleich auf Antidepressiva. Stärkere negative Auswirkungen zeigten sich bei:
- Männern (im Vergleich zu Frauen)
- Patienten mit niedrigeren MMSE-Ausgangswerten
- Patienten, die keine Anxiolytika oder Hypnotika verwendeten
Besonders gravierend war der Effekt bei Patienten mit bereits schwerer Demenz (MMSE 0-9 zu Beginn): -1,51 Punkte/Jahr.
Was bedeuten diese Ergebnisse für die klinische Praxis?
Diese Studie wirft wichtige Fragen zur aktuellen Praxis der Verschreibung von Antidepressiva bei Demenzpatienten auf. Hier einige praktische Überlegungen:
Für Ärzte:
- Sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung: Die Entscheidung, Antidepressiva bei Demenzpatienten einzusetzen, sollte unter sorgfältiger Abwägung der potenziellen Vorteile gegen die möglichen kognitiven Nachteile getroffen werden.
- Regelmäßiges Monitoring: Patienten, die Antidepressiva erhalten, sollten engmaschig auf kognitive Veränderungen überwacht werden.
- Dosisanpassung: Die Studie legt nahe, dass niedrigere Dosierungen von SSRIs möglicherweise weniger negative Auswirkungen auf die Kognition haben.
- Individuelle Medikamentenwahl: Die unterschiedlichen Auswirkungen verschiedener SSRIs deuten darauf hin, dass die Wahl des spezifischen Antidepressivums an den individuellen Patienten angepasst werden sollte.
Für Angehörige und Betreuer:
- Wachsam bleiben: Achten Sie auf mögliche Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten nach Beginn einer antidepressiven Therapie.
- Offene Kommunikation: Teilen Sie Beobachtungen zu Verhaltens- oder Kognitionsänderungen dem behandelnden Arzt mit.
- Ganzheitlicher Ansatz: Nicht-medikamentöse Ansätze zur Behandlung von Depressionen wie körperliche Aktivität, soziale Einbindung und kognitive Stimulation sollten nicht vernachlässigt werden.
Einschränkungen der Studie
Trotz der beeindruckenden Größe und Dauer dieser Kohortenstudie gibt es einige wichtige Einschränkungen zu beachten:
- Indikationsbias: Es ist schwierig zu unterscheiden, ob die beobachteten Effekte auf die Antidepressiva selbst oder auf die Depression zurückzuführen sind, wegen der sie verschrieben wurden.
- Klinische Bedeutung: Die beobachteten Unterschiede im kognitiven Verfall (0,19-0,76 Punkte/Jahr auf der MMSE-Skala) liegen unter dem, was allgemein als klinisch bedeutsame Veränderung angesehen wird (1-3 Punkte).
- Selektiver Dropout: Trotz statistischer Anpassungen kann die hohe Ausfallrate bei Langzeitstudien mit Demenzpatienten die Ergebnisse verzerren.
Die Autoren selbst räumen ein: “Unsere Studie kann nicht unterscheiden, ob diese Ergebnisse auf die Antidepressiva selbst oder auf die zugrundeliegende psychiatrische Indikation zurückzuführen sind.”
Fazit und Ausblick
Die schwedische Studie liefert wichtige neue Erkenntnisse über die möglichen Risiken von Antidepressiva, insbesondere SSRIs, bei Demenzpatienten. Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer vorsichtigen und individualisierten Verschreibungspraxis.
Für die Zukunft sind weitere Studien nötig, die:
- Den Zusammenhang zwischen Depression, Antidepressiva und kognitivem Verfall besser entflechten
- Die optimalen Dosierungen und Medikamentenwahlen für verschiedene Demenztypen und -stadien identifizieren
- Langzeiteffekte in kontrollierten Umgebungen untersuchen
Bis dahin sollten sowohl Mediziner als auch Patienten und Angehörige einen umsichtigen Umgang mit Antidepressiva bei Demenz pflegen – mit regelmäßiger Überprüfung der Notwendigkeit und Wirksamkeit der Medikation sowie einer ganzheitlichen Betrachtung der Behandlungsmöglichkeiten.