Lesen auf Papier oder am Bildschirm: Was Ihr Gehirn bevorzugt?
Meta-Beschreibung: Neurowissenschaftliche Studien zeigen: Lesen auf Papier verbessert das Textverständnis. Erfahren Sie, warum Ihr Gehirn gedruckte Texte besser verarbeitet.
Wenn digitales Lesen zur kognitiven Herausforderung wird
Stellen Sie sich vor: Sie lesen einen wichtigen Arztbericht auf Ihrem Tablet, scrollen durch die Seiten und haben am Ende das Gefühl, alles verstanden zu haben. Doch als Sie versuchen, die Details wiederzugeben, merken Sie plötzlich – die Informationen sind nur oberflächlich hängengeblieben. Was Sie erleben, ist kein Zufall, sondern ein wissenschaftlich belegtes Phänomen, das unser digitales Zeitalter prägt.
Während der Corona-Pandemie wechselten Millionen Menschen weltweit zum digitalen Lernen. Doch aktuelle Forschungsergebnisse zeigen: Unser Gehirn verarbeitet gedruckte und digitale Texte grundlegend unterschiedlich – mit überraschenden Konsequenzen für unser Verständnis und unsere Gedächtnisleistung.
Die Neurowissenschaft hinter dem Papier-Vorteil
Warum bevorzugt unser Gehirn eigentlich das Lesen auf Papier? Die Antwort liegt in der Art und Weise, wie unterschiedliche Hirnregionen beim Lesen aktiviert werden.
Eine Studie aus dem Jahr 2009, durchgeführt vom Marktforschungsunternehmen Millward Brown, nutzte funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI – eine bildgebende Methode, die Hirnaktivität sichtbar macht), um zu untersuchen, was beim Lesen verschiedener Medien im Gehirn passiert. Die Ergebnisse waren eindeutig: Gedruckte Materialien aktivierten verstärkt den medialen präfrontalen Kortex und den zingulären Kortex – beides Hirnareale, die an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind. Zusätzlich zeigte sich mehr Aktivität im parietalen Kortex, der für die Verarbeitung visueller und räumlicher Informationen zuständig ist [1].
“Lesen auf Papier ist wie eine Art Meditation – wir fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf etwas Beständiges”, erklärt Anne Mangen, Professorin für Literalität an der Universität Stavanger in Norwegen. Diese besondere Form der Konzentration unterscheidet sich grundlegend vom reaktiven Umgang mit digitalen Medien, die ständig um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren [2].
Details verloren: Was die Forschung über digitales Textverständnis zeigt
Lauren Singer Trakhman von der University of Maryland untersuchte 2016 gezielt die Lesekompetenz von Studierenden. Die Teilnehmer lasen identische Artikel – einmal digital, einmal auf Papier. Das Ergebnis war aufschlussreich: Während die Studierenden die Hauptideen in beiden Formaten gleich gut erfassten, übersahen sie beim digitalen Lesen signifikant mehr Details [3].
Die Ursache könnte in der sogenannten “Shallowing-Hypothese” (Verflachungs-Hypothese) liegen. Diese besagt, dass die ständige Konfrontation mit schnellen, digitalen Medien unser Gehirn darauf trainiert, Informationen rascher, aber weniger gründlich zu verarbeiten. Ein bedenklicher Trend, besonders für Menschen, die komplexe medizinische Informationen verstehen müssen.
Die Überschätzungsfalle: Warum wir unsere digitale Lesefähigkeit falsch einschätzen
Hier kommt ein paradoxes Phänomen ins Spiel: Studien zeigen, dass digitales Lesen zu Selbstüberschätzung führt. “Wir lesen digitale Texte schneller, deshalb denken wir, wir müssten sie besser verstehen”, erläutert Singer Trakhman. Diese trügerische Sicherheit kann besonders problematisch sein, wenn es um gesundheitsrelevante Informationen geht – etwa beim Lesen von Medikamentenbeipackzetteln oder Therapieanweisungen [4].
Scrollen versus Blättern: Die räumliche Komponente des Lesens
Ein weiterer faszinierender Aspekt betrifft die räumliche Verarbeitung von Text. Wenn wir lesen, erstellt unser Gehirn eine kognitive Landkarte des Textes. Wir erinnern uns beispielsweise, dass eine bestimmte Information oben auf einer linken Seite stand. Diese mentale Kartierung wird bei digitalen Texten erheblich erschwert.
Eine Studie aus dem Jahr 2017 demonstrierte dies eindrucksvoll: Probanden lasten einen Comic einmal mit Scrollfunktion und einmal mit allen Panels gleichzeitig sichtbar. Beim Scrollen verschlechterte sich das Textverständnis signifikant, da die “visuellen Platzhalter” fehlten, die unser Gehirn zum Orientieren nutzt [5].
Was das für Sie bedeutet: Beim Scrollen müssen Sie sich nicht nur an den Inhalt erinnern, sondern auch an die Position des Textes. Das belastet Ihr Arbeitsgedächtnis (der Teil des Gehirns, der Informationen kurzfristig speichert und verarbeitet), das ohnehin nur etwa sieben Informationseinheiten gleichzeitig verarbeiten kann.
Die multisensorische Dimension: Warum Papier mehr ist als nur Text
Professorin Mangen führte eine aufschlussreiche Studie durch, bei der Teilnehmer eine Geschichte entweder auf einem Kindle oder als gedrucktes Buch lasen. Die Texte waren identisch, aber Kindle-Nutzer drückten eine Taste zum Weiterblättern, während Leser von Druckexemplaren Seiten umblätterten. Das Ergebnis: Leser gedruckter Bücher konnten die chronologische Reihenfolge der Geschichte deutlich besser wiedergeben [6].
Der Grund liegt in den sensomotorischen Hinweisen (Sinnes- und Bewegungsreizen), die das Lesen auf Papier bietet:
- Das Gewicht der gelesenen Seiten in der linken Hand nimmt zu
- Die Dicke der verbleibenden Seiten rechts nimmt ab
- Das haptische Erlebnis des Blätterns
- Sogar der Geruch des Papiers
Forschungen deuten darauf hin, dass wir Informationen effektiver verarbeiten, wenn wir mehrere Sinne und damit mehrere Hirnareale gleichzeitig einbeziehen [7].
E-Reader: Eine Zwischenlösung?
E-Reader wie Kindle reduzieren einige Nachteile digitaler Bildschirme. Sie erfordern kein Scrollen und verwenden E-Ink-Technologie, die die Augenbelastung durch das konstante Flackern von LED-Bildschirmen vermeidet. Dennoch fehlt ihnen ein wichtiger Aspekt: das physische Umblättern von Seiten, das unserem Gehirn wichtige räumliche und taktile Informationen liefert.
Die besorgniserregende Entwicklung: Es wird nicht besser, sondern schlechter
Eine Meta-Analyse, die Studien zum Leseverständnis zwischen 2000 und 2017 untersuchte, zeigt einen alarmierenden Trend: Die Vorteile des Papierlesens sind heute größer als im Jahr 2000. Mit anderen Worten: Wir werden nicht besser im digitalen Lesen – wir werden schlechter [8].
“Die Gewohnheiten, die wir beim Lesen auf Bildschirmen entwickeln, übertragen sich auf andere Bereiche, und wir versuchen damit umzugehen, indem wir schneller und oberflächlicher lesen”, erklärt Mangen. Dieser Effekt könnte besonders für Menschen mit neurologischen Erkrankungen relevant sein, bei denen Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung bereits beeinträchtigt sind.
Praktische Empfehlungen für Ihren Alltag
Beide Wissenschaftlerinnen betonen: Digitales Lesen sollte nicht komplett gemieden werden. Stattdessen sollten wir situationsabhängig das passende Medium wählen:
Verwenden Sie Papier für:
- Längere, komplexe Texte (medizinische Berichte, Fachartikel)
- Informationen, die Sie langfristig behalten müssen
- Detaillierte Anweisungen (Medikationspläne, Therapieanleitungen)
Digitales Lesen eignet sich für:
- Schnelles Scannen von Überschriften
- Kurze Nachrichtenartikel
- Freizeitlektüre ohne Lernanspruch
Strategien zur Verbesserung des digitalen Lesens:
- Bewusst langsamer lesen
- Wichtige Punkte handschriftlich notieren (Studien zeigen, dass Handschrift ein besseres Gedächtniswerkzeug ist als Tippen) [9]
- Regelmäßige Pausen einlegen
- Bei wichtigen Informationen auf Papier ausweichen
Was diese Erkenntnisse für Menschen mit neurologischen Erkrankungen bedeuten
Für Patienten mit Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz, Multipler Sklerose oder nach einem Schlaganfall, bei denen kognitive Funktionen bereits beeinträchtigt sein können, sind diese Forschungsergebnisse besonders relevant. Die zusätzliche kognitive Belastung durch digitales Lesen könnte bestehende Schwierigkeiten beim Textverständnis und der Informationsspeicherung verstärken.
Pflegende Angehörige sollten erwägen, wichtige gesundheitsbezogene Informationen in gedruckter Form bereitzustellen. Dies könnte die Compliance (Therapietreue) verbessern und Missverständnisse bei komplexen medizinischen Anweisungen reduzieren.
Fazit: Das Gehirn braucht manchmal die analoge Pause
Die Neurowissenschaft liefert klare Belege: Unser Gehirn verarbeitet gedruckte Texte tiefer, detaillierter und mit stärkerer emotionaler Beteiligung. In einer zunehmend digitalisierten Welt ist es wichtig, sich dieser Unterschiede bewusst zu sein und bewusste Entscheidungen über unser Leseverhalten zu treffen.
Wenn Sie das nächste Mal vor der Wahl stehen, einen wichtigen Text digital oder auf Papier zu lesen, erinnern Sie sich an die Forschung: Ihr Gehirn wird es Ihnen danken, wenn Sie zum Papier greifen. Besonders bei Informationen, die wirklich wichtig sind – wie Ihre Gesundheit.
Referenzen
[1] Millward Brown (2009). Using Neuroscience to Understand the Role of Direct Mail. Millward Brown Case Study. https://www.millwardbrown.com/docs/default-source/insight-documents/case-studies/MillwardBrown_CaseStudy_Neuroscience.pdf
[2] Mangen, A., Walgermo, B. R., & Brønnick, K. (2013). Reading linear texts on paper versus computer screen: Effects on reading comprehension. International Journal of Educational Research, 58, 61–68. doi: 10.1016/j.ijer.2012.12.002
[3] Singer Trakhman, L., & Alexander, P. (2016). Reading Across Mediums: Effects of Reading Digital and Print Texts on Comprehension and Calibration. The Journal of Experimental Education. doi: 10.1080/00220973.2016.1143794
[4] Lauterman, T., & Ackerman, R. (2014). Overcoming screen inferiority in learning and calibration. Computers in Human Behavior, 35, 455–463. doi: 10.1016/j.chb.2014.02.046
[5] Hou, J., Rashid, J., & Lee, K. M. (2017). Cognitive map or medium materiality? Reading on paper and screen. Computers in Human Behavior, 67, 84–94. doi: 10.1016/j.chb.2016.10.014
[6] Mangen, A., Olivier, G., & Velay, J.-L. (2019). Comparing Comprehension of a Long Text Read in Print Book and on Kindle: Where in the Text and When in the Story? Frontiers in Psychology, 10, 38. doi: 10.3389/fpsyg.2019.00038
[7] Mayer, K. M., Yildiz, I. B., Macedonia, M., & von Kriegstein, K. (2015). Visual and Motor Cortices Differentially Support the Translation of Foreign Language Words. Current Biology, 25(4), 530–535. doi: 10.1016/j.cub.2014.11.068
[8] Delgado, P., Vargas, C., Ackerman, R., & Salmerón, L. (2018). Don’t throw away your printed books: A meta-analysis on the effects of reading media on reading comprehension. Educational Research Review, 25, 23–38. doi: 10.1016/j.edurev.2018.09.003
[9] Smoker, T. J., Murphy, C. E., & Rockwell, A. K. (2009). Comparing Memory for Handwriting versus Typing. Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting, 53(22), 1744–1747. doi: 10.1177/154193120905302218



