Durchbruch in der MS-Therapie: Genetischer Test ermöglicht personalisierte Behandlung
Neue Studie identifiziert HLA-A*03:01 als ersten validierten Biomarker für Multiple Sklerose-Therapie. Genetischer Test könnte ein Drittel der Patienten bessere Behandlung ermöglichen.
Ein genetischer Schlüssel zur richtigen MS-Behandlung
Stellen Sie sich vor, Sie erhalten die Diagnose Multiple Sklerose (MS) und stehen vor der schwierigen Entscheidung zwischen verschiedenen Therapieoptionen. Bisher mussten Ärzte und Patienten oft monatelang abwarten, ob eine Behandlung anschlägt – wertvolle Zeit, in der die Krankheit fortschreiten kann. Eine bahnbrechende internationale Studie, veröffentlicht in eBioMedicine, könnte nun erstmals einen Weg zur personalisierten MS-Therapie eröffnen.
Was haben Forscher entdeckt?
Ein internationales Forscherteam unter Beteilung deutscher Universitätskliniken und US-amerikanischer Wissenschaftler hat HLA-A*03:01 als ersten validierten prädiktiven Biomarker für die Multiple-Sklerose-Behandlung identifiziert. Diese Entdeckung basiert auf der Analyse von über 3.000 MS-Patienten und könnte die Behandlungslandschaft grundlegend verändern.
HLA (Humanes Leukozyten-Antigen) bezeichnet Eiweißstrukturen auf der Zelloberfläche, die eine zentrale Rolle im Immunsystem spielen. Sie bestimmen, welche körpereigenen und fremden Strukturen das Immunsystem erkennt und wie es darauf reagiert.
Die Bedeutung von HLA-A*03:01
Die Forscher untersuchten T-Zell-Rezeptor-Sequenzen von 3.021 MS-Patienten und fanden gemeinsame Expansionen spezifischer T-Zellen nach Glatirameracetat-Behandlung ausschließlich bei Trägern der Genvarianten HLA-A03:01 oder HLA-DRB115:01.
Wie wurde die Studie durchgeführt?
Die Wissenschaftler verwendeten modernste T-Zell-Rezeptor-Sequenzierung – eine Methode, mit der sich die individuellen “Fingerabdrücke” der Immunzellen analysieren lassen. In einer Entdeckungskohorte von 1.627 MS-Patienten identifizierten sie zunächst charakteristische T-Zell-Muster, die dann in 1.394 weiteren Patienten validiert wurden.
Mehrschichtige Validierung
Die Besonderheit dieser Studie liegt in ihrer umfassenden Validierung:
- Molekulare Bestätigung: Die identifizierten T-Zell-Sequenzen expandierten nachweislich nach GA-Behandlung und konnten GA-Exposition in Validierungskohorten vorhersagen
- Klinische Analysen: Daten von 1.987 MS-Patienten aus fünf großen Kohorten (NationMS, ACP, EPIC, BIONAT und CombiRx-Studie) wurden analysiert
- Zelluläre Charakterisierung: Mittels Einzelzell-RNA-Sequenzierung identifizierten die Forscher, dass HLA-A03:01-assoziierte Sequenzen CD8+ Effektor-T-Zellen und HLA-DRB115:01-assoziierte Sequenzen CD4+ zentrale Gedächtnis-T-Zellen mit spezifischen Eigenschaften sind
Die überzeugenden klinischen Ergebnisse
Die praktische Bedeutung der Entdeckung zeigt sich in beeindruckenden klinischen Daten:
Reduktion der Schubrate
HLA-A*03:01-Träger zeigten unter Glatirameracetat im Vergleich zu Interferon beta eine relative Reduktion des Schubrisikos um 33% (CombiRx-Studie: GA + IFN-Arm) und 34% (CombiRx: GA-Arm) sowie eine Reduktion des Risikos für den ersten Schub um 63% (NationMS-Studie).
Verlangsamung der Krankheitsprogression
Bei HLA-A*03:01-Trägern war die jährliche EDSS-Verschlechterung (Expanded Disability Status Scale – ein Maß für Behinderungsgrad) unter GA-Behandlung um 0,42 Punkte geringer als unter Interferon. Dies mag klein erscheinen, bedeutet aber über Jahre einen erheblichen Unterschied in der Lebensqualität.
Geringere Krankheitsaktivität
Patienten mit HLA-A*03:01 zeigten unter GA-Behandlung niedrigere MSSS-Werte (Multiple Sclerosis Severity Score) und weniger Läsionen in der Magnetresonanztomographie.
Für wen ist dieser Test relevant?
Die gute Nachricht: Zwischen 29% und 49% der europäischstämmigen MS-Patienten tragen das HLA-A*03:01-Allel – das bedeutet, dass potenziell jeder dritte Patient von dieser Erkenntnis profitieren könnte.
Keine Wirkung ohne den genetischen Marker?
Eine wichtige Frage bleibt teilweise offen: Während die Studie zeigt, dass GA bei HLA-A*03:01-Trägern signifikant besser wirkt als Interferon, lässt sich ohne Placebo-Daten nicht definitiv sagen, ob GA bei Nicht-Trägern überhaupt keine Wirkung hat. Klar ist jedoch, dass diese Patienten mehr von Interferon profitieren würden.
Was bedeutet das für Patienten?
Personalisierte Therapieentscheidung
Die Autoren empfehlen, dass Patienten, die sich mit ihrem Arzt für eine Plattformtherapie entschieden haben, auf HLA-A*03:01 getestet werden sollten. Positive Patienten sollten bevorzugt mit Glatirameracetat statt Interferon behandelt werden.
Vorteile von Glatirameracetat
Glatirameracetat hat besondere Eigenschaften, die es für bestimmte Patienten attraktiv machen:
- Sicherheitsprofil: GA weist eines der günstigsten Sicherheitsprofile unter allen zugelassenen MS-Medikamenten auf, insbesondere während der Schwangerschaft, wo es das einzige krankheitsmodifizierende Medikament ohne Sicherheitsbedenken ist
- Wirksamkeit: Die Wirksamkeit ist vergleichbar mit hochdosiertem Interferon beta
Wie funktioniert der Wirkungsmechanismus?
Der genaue Wirkmechanismus von Glatirameracetat bleibt trotz jahrzehntelanger Forschung teilweise rätselhaft. GA wurde ursprünglich entwickelt, um die Aminosäurezusammensetzung des Myelin-Basischen-Proteins nachzuahmen – jener Struktur, die bei MS vom Immunsystem angegriffen wird.
Die starke Präsenz des variablen Beta-Gens TRBV5-6 in 60% der identifizierten Sequenzen deutet darauf hin, dass möglicherweise ein einzelnes antigenes Peptid aus der GA-Mischung für die klinische Wirkung verantwortlich sein könnte. Diese Erkenntnis könnte zur Entwicklung verbesserter Therapien führen.
Einschränkungen und offene Fragen
Wie bei jeder wissenschaftlichen Studie gibt es auch hier Einschränkungen:
- Retrospektive Analyse: Die Studie analysierte bereits erhobene Daten retrospektiv. Eine prospektive klinische Studie mit verschiedenen Behandlungsoptionen speziell bei HLA-A*03:01-Trägern wäre der ideale nächste Schritt
- Ethnische Diversität: Die Studienkohorten bestanden hauptsächlich aus Patienten europäischer Abstammung, sodass unklar ist, ob die Ergebnisse auf andere Ethnien übertragbar sind
- Vergleich mit anderen Therapien: Zukünftige Studien müssen zeigen, ob GA bei HLA-A*03:01-Trägern auch anderen Therapien als Interferon überlegen ist
Ausblick: Die Zukunft der personalisierten MS-Therapie
Diese Entdeckung markiert einen Wendepunkt in der MS-Behandlung. HLA-A*03:01 ist der erste validierte prädiktive Behandlungsbiomarker für Multiple Sklerose und ermöglicht Ärzten und Patienten, vor Therapiebeginn eine personalisierte Entscheidung zu treffen.
Was Sie als Patient tun können
Wenn bei Ihnen MS diagnostiziert wurde oder Sie bereits in Behandlung sind:
- Sprechen Sie mit Ihrem Neurologen über einen HLA-A*03:01-Test, falls eine Plattformtherapie geplant ist
- Informieren Sie sich über die verschiedenen Behandlungsoptionen
- Bedenken Sie, dass auch andere Faktoren wie persönliche Präferenzen und Begleiterkrankungen bei der Therapieentscheidung eine Rolle spielen
Fazit: Ein Meilenstein in der MS-Forschung
Nach jahrzehntelanger Suche nach Biomarkern für MS-Therapien liefert diese umfassende Studie endlich einen klinisch anwendbaren genetischen Test. Für etwa ein Drittel der MS-Patienten könnte dies bedeuten, von Anfang an die richtige Therapie zu erhalten – ohne das Risiko verlorener Zeit und möglicher Krankheitsprogression durch eine weniger wirksame Behandlung.
Die Hoffnung ist groß, dass dies erst der Anfang einer Ära der personalisierten MS-Medizin ist, in der genetische und immunologische Profile routinemäßig die Therapieentscheidung leiten werden.
Referenzen:
[1] Zhang, B.C., Schneider-Hohendorf, T., Elyanow, R., et al. (2025). HLA-A*03:01 as predictive genetic biomarker for glatiramer acetate treatment response in multiple sclerosis: a retrospective cohort analysis. eBioMedicine, 118, 105873. https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2025.105873
Hinweis: Dieser Artikel dient ausschließlich Informationszwecken und ersetzt nicht die medizinische Beratung durch einen qualifizierten Arzt. Therapieentscheidungen sollten immer in Absprache mit Ihrem behandelnden Neurologen getroffen werden.



